Das Forschungsprogramm des MPIfG
Unser Ansatz unterscheidet zwischen Politikgestaltung und Konsensmobilisierung. In Einklang mit dem Ansatz der Koalition der Produzentengruppen werden politische Grundsatzentscheidungen als von „dominanten wachstumsorientierten Koalitionen“ gestaltet aufgefasst, die durch gemeinsame – Klassengrenzen womöglich überschreitende – Interessen zusammengehalten werden. Jedoch kann in Anlehnung an den Ansatz der Wählerpräferenzen im demokratischen Kapitalismus eine Konsensmobilisierung weder als selbstverständlich gelten noch ignoriert werden. Die dominante wachstumsorientierte Koalition muss eine Wahlmehrheit aufbauen, die bereit ist, ihre zentralen politischen Maßnahmen mitzutragen. Dies wird leichter gelingen, wenn das Wachstumsmodell eine angemessene Wachstumsrate generiert, die zum Teil eingesetzt werden kann, um jenen einen Ausgleich anzubieten, die durch das Modell Nachteile erleiden. Dies ist allerdings nur möglich, wenn diese Gegenleistung den strukturellen Grundlagen des Wachstumsmodells nicht widerspricht. Wir stellen zudem die Hypothese auf – und beabsichtigen, diese zu testen –, dass eine dominante wachstumsorientierte Koalition Vorherrschaft ausübt in dem Sinn, dass sie die Ansichten einer breiteren, über den Kern des Wachstumsmodells hinausgehenden Koalition prägen kann. Zur Darstellung der Größe und Zusammensetzung von unterstützenden Koalitionen in verschiedenen Ländern wird eine Vielzahl von Methoden eingesetzt werden, unter anderem große Umfrageprojekte.
Die künftige Forschung wird Wachstumsmodelle nicht nur aus dem Blickwinkel der Vergleichenden Politischen Ökonomie untersuchen, sondern auch aus dem der Internationalen Politischen Ökonomie. Wachstumsmodelle sind aufeinander angewiesen und in eine stark strukturierte internationale Finanzhierarchie eingebettet. Außerdem wurde in den vergangenen zwei Jahrzehnten die Produktion in globale Wertschöpfungsketten umorganisiert. Exportorientierte und konsumorientierte Wachstumsmodelle benötigen einander, da die Exportüberschüsse des einen Landes den kreditgestützten Konsum in dem anderen Land mitfinanzieren. Exportorientierte Volkswirtschaften stützen die Rolle des US-Dollars als internationale Währung, indem sie ihre Exportüberschüsse in Dollar umwandeln. Mittels einer Perspektive der Internationalen Politischen Ökonomie lässt sich zwischen zentralen und peripheren Wachstumsmodellen unterscheiden. Zentrale konsumorientierte Wachstumsmodelle können Auslandsschulden nahezu ohne Korrekturbedarf anhäufen, da der Rest der Welt ihnen bereitwillig Geld leiht. Anders ausgedrückt: Die Leistungsbilanz stellt für diese Länder keine Einschränkung dar. Demgegenüber sind periphere konsumorientierte Wachstumsmodelle den Fährnissen grenzüberschreitender Finanzströme völlig ausgeliefert. In einem zentralen exportorientierten Wachstumsmodell stehen nationale Unternehmen an der Spitze globaler Wertschöpfungsketten. Demgegenüber liegt in einem peripheren exportorientierten Wachstumsmodell das Eigentum an Exportunternehmen in ausländischen Händen. Alternativ versorgen inländische Unternehmen Lieferketten, an deren Spitze ausländische Unternehmen stehen. Dies beschränkt die Möglichkeiten der inländischen Unternehmen, Gewinne zu erzielen und eine bessere Position in der Wertschöpfungskette zu erlangen, wodurch ihr Land in Abhängigkeit von ausländischem Kapital geraten kann.
Wachstumsmodelle als eingebettet in eine hierarchisch strukturierte internationale politische Ökonomie zu verstehen, erfordert es ebenfalls, sich mit dem Thema „Wissensökonomie“ auseinanderzusetzen. Verschiedene wichtige Zweige der sozialwissenschaftlichen Forschung stellen die Wissensökonomie als das Ergebnis langfristiger Entwicklungstrends auf der Angebotsseite der Wirtschaft dar: eine allgemeine Zunahme der Bildungsabschlüsse kombiniert mit einer Form technischen Fortschritts, der Qualifizierte und Hochqualifizierte begünstigt, sowie neue Formen der Komplementarität von hoher Qualifikation und Kapital („Kolokation“). Argumentiert wird, dass diese Kombination einen Einstellungswandel der Wählerschaft und ein Verkümmern der traditionellen fordistischen Allianz zwischen Facharbeitskräften und angelernten Arbeitskräften nach sich zieht. Infolgedessen unterstützt der „maßgebliche“ Wähler nicht länger traditionelle Umverteilungsmaßnahmen, sondern begrüßt bereitwilliger „soziale Investitionen“. Das Management der Wissensökonomie wird als ein kompetentes Management angebotsorientierter Politik betrachtet, insbesondere im Hinblick auf die Entwicklung von Humankapital und von Forschung und Entwicklung.
Doch ist die Wissensökonomie auch Teil einer grundlegenderen Verschiebung hin zum „Kapitalismus der intellektuellen Monopole“. Die Hierarchie der Spitzenunternehmen weltweit hat sich verändert. Unternehmen mit hohen materiellen Vermögenswerten wie General Motors sind durch Unternehmen mit hohen immateriellen Vermögenswerten wie Google und Facebook verdrängt worden. Das wichtigste Kapital dieser Unternehmen sind ihre Rechte an geistigem Eigentum, dessen wirtschaftlicher Wert von einem internationalen Regulierungssystem abhängt, das es schützt. Diese Unternehmen erzielen einen überproportionalen Anteil der globalen Unternehmensgewinne, die sie aber nur zum Teil mit ihrer Kernbelegschaft teilen. Vielmehr verwenden sie sie vornehmlich, um den Markteintritt neuer Wettbewerber zu verhindern, beispielsweise durch präventive Übernahmen. Diese Verschiebung hin zu immateriellem Kapital und Rechten an geistigem Eigentum hat bedeutende Auswirkungen auf die Nachfrageseite und trägt zu säkularer Stagnation bei, da Unternehmen, die auf immaterielles Kapital bauen, tendenziell deutlich weniger investieren und weniger Arbeitsplätze schaffen als die früheren Top-Unternehmen. Stattdessen neigen sie dazu, ihre Gewinne einzubehalten oder an ihre Aktionäre auszuschütten.