Miriam Hartlapp
Professorin am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin mit dem Schwerpunkt Deutschland und Frankreich im Vergleich | Wissenschaftliche Mitarbeiterin am MPIfG von 2000 bis 2003
Wie ich ans MPIfG gekommen bin? Weil Ingeborg Tömmel, bei der ich European Studies studiert habe und die meine Abschlussarbeit betreut hat, mich anrief und mir sagte, ich solle nach Köln fahren, um mich dort vorzustellen. Dann ging alles schnell, und noch bevor mein Studium in Osnabrück ganz abgeschlossen war, begann die Arbeit in der Projektgruppe „Neues Regieren und Soziales Europa? Zu Theorie und Praxis von Mindestharmonisierung und Soft Law im europäischen Mehrebenensystem“. Unter der Leitung von Gerda Falkner und gemeinsam mit Simone Leiber und Oliver Treib habe ich die Implementation von sechs arbeitsrechtlichen EU-Richtlinien in den damals 15 Mitgliedstaaten untersucht und dabei gelernt, durch den systematischen Vergleich von Ländern und Richtlinien wissenschaftliche Erkenntnis zu sichern – ein Ansatz, der bis heute meine Arbeit prägt.
Im Jahr 2003 promovierte ich dann über die Implementation europäischer Sozialpolitik in den südeuropäischen und frankophonen Mitgliedsländern und die „Kontrolle der nationalen Rechtsdurchsetzung durch die Europäische Kommission“. Wichtiger als meine eigene Promotion war der Beitrag des Gesamtprojekts zur aufkommenden Debatte um die Rückwirkungen der Europäischen Integration auf die Nationalstaaten, den wir in dem gemeinsam verfassten Buch „Complying with Europe: EU Minimum Harmonisation and Soft Law in the Member States“ (2005 CUP) bündelten.
Über die prägende Gruppenarbeit hinaus erinnere ich mich, außer an die unglaublichen Ressourcen und die außergewöhnliche Serviceorientierung des MPIfG (nie wieder so eine Verwaltung, so eine Bibliothek, so eine EDV, so eine gute Seele), vor allen Dingen an zwei „weiche“ Institutionen: das Doktorandenkolloquium, zu dem wir (damals etwa zwölf) Doktoranden uns montags im Erdgeschoss versammelten und aus dem wir nach gnadenlosen Fragen und kritischen Diskussionen – rechts Wolfgang Streeck, links Fritz Scharpf, die immer die ersten Fragen stellten – analytisch und inhaltlich so bereichert herausgingen, dass ich auch großen internationalen Konferenzen mit relativer Gelassenheit entgegenblicken konnte. Und an die tägliche Espressorunde, zu der sich die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen versammelten und in der ich erfuhr, wer gerade zu welchem Thema arbeitete oder grübelte (eine Art tacit knowledge, um Fragen zu adressieren) und dass Karrierewege immer nur von außen glatt aussehen.
»Karrierewege sehen immer nur von außen glatt aus.«
Was ich vom MPIfG mitgenommen habe? Ein Wissenschaftsverständnis, bei dem sich Forschungsfragen nicht einfach aus einer Lücke in der Literatur ergeben, sondern vor dem Hintergrund (aktueller) gesellschaftlicher Problemlagen relevant sein sollen, ein Ringen um Europäische Integration als Spannungsverhältnis einer großartigen Idee und ihren demokratietheoretisch und sozialpolitisch immensen Herausforderungen und viele Freunde, die bis heute wichtig sind: Armin Schäfer und Simone Leiber, die immer wissen, warum Politikwissenschaft notwendig ist; Martin Höpner und Susanne Schmidt, die den Kern einer kleinen Gruppe bilden, die sich jährlich trifft, um gemeinsam mit unseren Doktoranden die Wirtschafts- und Sozialintegration Europas besser zu verstehen; Arne Baumann, Anke Hassel, Steffen Ganghof und Henrik Enderlein, die ebenfalls in Berlin gelandet sind und hier mit Rat und Tat zur Seite stehen, sowie das Wichtigste: meinen Mann, Rainer Zugehör.
Nach der Promotion entsandte mich das MPIfG mit einem Brückenstipendium der Volkswagenstiftung für ein Jahr zur ILO (International Labour Organization) nach Genf. Mir war in der Dissertation aufgefallen, dass die EU keine Kompetenzen hatte, (ineffiziente) nationale Verwaltungen zu regulieren – Minimumharmonisierung in EU-Mitgliedstaaten erfolgte über den Umweg einer internationalen Arbeitsnorm (C81). Die eigentliche Motivation war aber die Praxis: Nachdem ich drei Jahre „nur“ Papier vollgeschrieben hatte, wollte ich „richtig“ arbeiten. Es war toll (das MPIfG-Netzwerk reichte bis dort, Lucio Baccaro war damals Direktor des International Institute for Labour Studies bei der ILO), aber am Ende wusste ich: Ich wollte zurück in die Wissenschaft und Professorin werden. Ich hatte gelernt, wie wertvoll es ist, selbst eine Fragestellung wählen zu können, eigenständig zu entscheiden, wie tief diese zu bearbeiten und wann sie (so gut als möglich) beantwortet ist – eine notwendige Bedingung für intrinsische Motivation.
Der Wechsel zwischen Wissenschaft und Praxis ist in Deutschland noch immer unüblich. Trotzdem hatte ich Glück und erhielt eine Postdoc-Stelle am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Ich arbeitete zunächst in der Abteilung von Günther Schmid, um zu untersuchen, warum Länder unterschiedlich erfolgreich in der Beschäftigung älterer Arbeitnehmer sind, und anschließend als unabhängige Nachwuchsgruppenleiterin. In der Projektgruppe am MPIfG hatte ich von Gerda Falkner gelernt, wie man empirisch anspruchsvolle Forschungsdesigns entwickelt und umsetzt – das konnte ich nun gut gebrauchen. Ausgangpunkt war ein echtes „Problem“: Warum war der Vorschlag für die Bolkestein-Richtlinie zur Dienstleistungsfreiheit so marktliberal gewesen? Gab es innerhalb der Kommission keine anderen Positionen oder konnten sich die Ressorts für Sozial- und Beschäftigungspolitik nicht gegen den Binnenmarktkommissar durchsetzen? Sechs Jahre forschte ich zu Macht und Konflikt in der EU-Kommission. Ein Schumpeter-Fellowship der VW-Stiftung ermöglichte dabei – ganz unüblich für diese Karrierephase in Deutschland – größtmögliche Eigenständigkeit, aber auch viel Verantwortung in Management und Personalführung, und eine mittelfristige Beschäftigungsperspektive. Diese erleichterte die Familiengründung ungemein – wir bekamen drei Töchter – und erlaubte mir, mit mehr Ruhe Erfahrungen und Publikationen zu sammeln; beides war von großem Wert in der dann folgenden Bewerbungsphase.
2013 erhielt ich einen Ruf auf eine W2-Professur für Organisations- und Governanceforschung an die Universität Bremen (wo ich viele ehemalige MPIfG-Kolleginnen und Kollegen wiedertraf: Philip Manow, Philipp Genschel und Susanne Schmidt hatten Professuren in Bremen und auch viele ihrer Mitarbeiter, wie Holger Döring oder Julia Sievers, kannte ich über das MPIfG). Schon 2014 wechselte ich auf eine W2-Professur für Mehrebenengovernance nach Leipzig. Und eben weil Lebensläufe nur von außen glatt aussehen, gehört zu diesem raschen Wechsel gesagt, dass Pendeln mit drei kleinen Kindern eine Herausforderung ist: Leipzig war von Berlin in 60 Minuten mit dem ICE zu erreichen. Seit 2017 bin ich Professorin für Vergleichende Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Deutschland und Frankreich an der Freien Universität Berlin. Als Verantwortliche für drei Doppeldiplomstudiengänge – ein MA mit der Ecole des Hautes Études Commerciales (HEC) Paris sowie ein BA und ein MA mit Sciences Po Paris (wo sich Fragen in Studienangelegenheiten leicht mit der Vizepräsidentin Cornelia Woll, einer guten Bekannten aus der Kölner Doktorandenzeit, klären ließen) – gibt es viel Arbeit, aber bemerkenswert kluge und fleißige Studierende. Und: Ich glaube, es gibt keinen spannenderen Zeitpunkt, um eine Stelle mit diesem Profil zu übernehmen. Deutschland und Frankreich stehen angesichts von Polarisierung und Populismus vor ähnlichen Herausforderungen: Welche Politics-, Polity und Policy-Antworten finden sie, und gelingt es, diese mit ihren unterschiedlichen Vorstellungen vom Was und Wie der Europäischen Integration zu verbinden?