Inflationshysterie? Warum Sorgen über die Inflation berechtigt sind
Martin Höpner
Standpunkt
Das Ende der Inflation war ein beliebtes Forschungsthema der vergangenen zehn Jahre. Nicht von Inflations-, sondern von Deflationsdruck waren die entwickelten Volkswirtschaften geplagt und wenig schien darauf hinzudeuten, dass sich das bald ändern würde. Innerhalb weniger Monate nun hat sich diese Debatte komplett gedreht.
Die statistischen Ämter beziffern die deutsche Inflationsrate für 2021 mit 3,1 Prozent, die der Eurozone mit 2,6 Prozent. Die Preisschübe konzentrierten sich auf das dritte und besonders auf das vierte Quartal, mit jahresbezogenen Teuerungsraten von jeweils um die 5 Prozent sowohl in Deutschland als auch in der Eurozone. Vor dem Ausbruch des Ukrainekriegs prognostizierte die Deutsche Bundesbank für das Jahr 2022 noch eine deutsche Inflationsrate von 3,6 Prozent. Die letzten verfügbaren Daten liegen deutlich darüber: Im April 2022 wurde die Teuerung seit dem April des Vorjahrs auf 7,4 Prozent beziffert. Zwei Meinungen stehen sich angesichts dieser Daten und Prognosen gegenüber: Die Inflation ist zurück, sagen die einen. Zurück ist lediglich die typisch deutsche Inflationshysterie, sagen die anderen. Im Rat der Europäischen Zentralbank (EZB) wird zwischen den sogenannten Falken und Tauben nunmehr darüber gestritten, ob geldpolitischer Handlungsbedarf besteht.
Unstrittig ist, dass in den Daten Sondereffekte stecken. In Deutschland gehört dazu die Rücknahme der zeitweiligen Senkung der Mehrwertsteuer. Weltweit haben gestörte Lieferketten die Vorprodukte verteuert. Vor allem aber stechen die notorisch schwankenden Energiepreise hervor. Waren sie 2020 noch gefallen, zogen sie 2021 erheblich an. Das gilt ganz besonders für Heizöl und Kraftstoffe, aber auch für Erdgas. Der Anteil der Energiepreise am jüngsten Anstieg der Verbraucherpreise wird auf mindestens die Hälfte geschätzt. Der Ukrainekrieg wird die Energiepreise zweifellos weiter steigen lassen.
Muss die Notenbank reagieren und die Zinsen anheben? So sehen es die Falken. Sie meinen, dass die EZB ihre Geldpolitik normalisieren sollte. Deren Gegner wenden ein, dass die Ursachen der jüngsten Preisschübe sehr speziell sind und sich der Steuerbarkeit durch die Notenbank entziehen. Die Notenbank könne und solle einschreiten, wenn sich Preise und Löhne über einen längeren Zeitraum gegenseitig hochschaukeln. Dergleichen sei aber nicht zu beobachten. Störungen der Lieferketten könne die EZB hingegen nicht adressieren, ebenso wenig wie Containerengpässe oder gar die durch Krieg und Sanktionen hervorgerufenen Schübe bei den Erdgaspreisen. Hier haben die Tauben einen guten Punkt. Nein, die Ursachen der aktuellen Preisschübe kann die Notenbank nicht beseitigen. Eine andere Frage ist aber, ob die Gründe für die ultraexpansive Geldpolitik, die ja ursprünglich der Anhebung der Inflation auf das Inflationsziel von 2 Prozent diente, wirklich fortbestehen. „Weniger Gas geben“ ist etwas anderes als „auf die Bremse treten“.
Indes ist der vorübergehende Charakter der steigenden Energiepreise mit einem Fragezeichen zu versehen, ganz unabhängig von Pandemie und Ukrainekrieg. Denn im Rahmen der Energiewende sollen die Preise für fossile Brennstoffe ja gerade weiter steigen, um Anreize für Innovationen bei den erneuerbaren Energien und bei energiesparenden Produktionsmethoden zu setzen. Weil Innovationen und Anpassungsprozesse Zeit brauchen, muss mittelfristig mit steigenden Aufwendungen für Energie gerechnet werden. Diese aber markieren nicht lediglich eine Veränderung relativer Preise, sondern übersetzen sich in Preisschübe durch die Bank. Energie steckt in jedem Produkt und jeder Dienstleistung.
Gewiss, auch hiergegen kann – und soll – die Notenbankpolitik nichts ausrichten. Die vermutete Mittelfristigkeit der sogenannten Greenflation verstärkt die Gefahr von Zweitrundeneffekten aber ganz erheblich. Gewerkschaften mögen einmalige Preisschübe hinnehmen, ohne höhere Löhne zu fordern. Ein mittelfristig steigendes Preisniveau können Gewerkschaften aber nicht ignorieren. Über kurz oder lang werden sie ihre Forderungen an die steigenden Preise anpassen müssen. Kurz, es hängt maßgeblich von der Lohnpolitik ab, ob sich die jüngsten oder zukünftige Preissteigerungen in Lohn-Preis-Spiralen übersetzen und sich damit verstetigen.
Aus Sicht der am MPIfG betriebenen Forschung zur Vergleichenden Politischen Ökonomie ergibt sich hieraus ein Problem, das im schlimmsten Fall in eine neue Eurokrise münden könnte. In der Eurozone gibt es in Wahrheit nämlich nicht „die“ Lohnpolitik, sondern 19 unterschiedliche Lohnpolitiken der Euro-Teilnehmerländer – mit unterschiedlichen Institutionen der Lohnfindung, Kräfteverhältnissen, Problemwahrnehmungen und Reaktionsmustern auf ökonomische Schocks. Auf einheitliche Reaktionen der Lohnpolitik kann die EZB stimmig reagieren, aber nicht auf 19 unterschiedliche.
»Aktuelle Preisschübe stellen die makroökonomische Politik im Euroraum vor eine ernste Belastungsprobe.«
Im Jahr 2021 hat die deutsche Lohnpolitik mit äußerst vorsichtigen, stabilitätsorientierten Abschlüssen reagiert. Offen ist, ob sich das in anderen Ländern, namentlich in Südeuropa, so replizieren lässt, sowohl zeitnah als auch mittelfristig. Kommt es zu keinem Gleichklang der Reaktionen, könnten sich im Euroraum unterschiedliche Inflationsraten verstetigen, so wie wir es bereits in den ersten zehn Eurojahren beobachten konnten. Genau so entstand die Eurokrise.
Die aktuellen und möglicherweise auch mittelfristig zu erwartenden Preisschübe stellen die makroökonomische Politik im Euroraum vor eine ernste Belastungsprobe. Die beschwichtigende Rede von der fehlgeleiteten „Inflationshysterie“ ist daher mit großer Vorsicht zu genießen.