Kinder, Arbeit und Konsum: Warum Demografie und politische Ökonomie nicht zu trennen sind

Kinder, Arbeit und Konsum: Warum Demografie und politische Ökonomie nicht zu trennen sind

Wolfgang Streeck

15. Juli 2015
In seinem Beitrag „Kinder, Arbeit und Konsum“ erläutert Wolfgang Streeck, was das Thema Geburten und Geburtenraten in einem Forschungsprogramm zur politischen Ökonomie des modernen Kapitalismus zu suchen hat. Wie gestalten überalterte Gesellschaften ihre Erneuerung? Welche Folgen hat staatliche Einwanderungspolitik? Darf zwischen „guten“ und „schlechten“ Kindern unterschieden werden? Ohne Bezug auf Politik und Wirtschaft sind Fragen wie diese und die Antworten, die auf sie gegeben werden, nicht zu verstehen. Die Dissertationsprojekte von Annina T. Hering, Barbara Fulda und Sara Weckemann unterstreichen, dass flexible Arbeitsmärkte, Familienstrukturen und Geburtenverhalten eng zusammenhängen und eine rein familiensoziologische oder demografische Betrachtung hier zu kurz greift.

Wolfgang Streeck: Kinder, Arbeit und Konsum: Warum Demografie und politische Ökonomie nicht zu trennen sind

Dissertationsprojekt Annina T. Hering: Ökonomische und partnerschaftliche Unsicherheiten und ihre Folgen für das Geburtenverhalten in Deutschland

Dissertationsprojekt Barbara Fulda: Geburtenraten und regionale Kulturen in Zeiten sozialen und ökonomischen Wandels

Dissertationsprojekt Sara Weckemann: Viele Kinder, keine Arbeit: Mutterschaft als Anerkennungshoffnung und warum der Traum zerbrechlich ist



Kinder, Arbeit und Konsum: Warum Demografie und politische Ökonomie nicht zu trennen sind

Wolfgang Streeck
 
Geburten und Geburtenraten sind normalerweise Thema der Familiensoziologie oder der Demografie. Was haben sie in einem Forschungsprogramm zur politischen Ökonomie des modernen Kapitalismus zu suchen?
 
Sehr viel – so viel, dass man sich nur schwer vorstellen kann, wie man sie ohne Bezug auf Politik und Wirtschaft auch nur annähernd verstehen soll. Im Folgenden ein paar Beispiele: Die niedrigen und sinkenden Geburtenraten in den reichen kapitalistischen Gesellschaften sind nicht nur Resultat eines erleichterten Zugangs zu wirksamen Mitteln der Empfängnisverhütung, sondern auch einer rapiden Zunahme der weiblichen Erwerbstätigkeit seit dem Ende der 1960er-Jahre. Ohne sie wären die Geburtenraten trotz Empfängnisverhütung weit weniger stark gesunken, wenn überhaupt. Auch hat sich parallel zur Erwerbstätigkeit der Frauen und mit ihr zusammenhängend die Familienstruktur verändert; Ehen sind seltener geworden, Scheidungen und Zusammenleben außerhalb der Ehe häufiger. Der Anteil der Kinder, die außerehelich geboren werden, nimmt in nahezu allen OECD-Ländern zu; in einigen übersteigt die Zahl der unehelich geborenen Kinder die der ehelich geborenen schon heute deutlich. Zugleich haben verheiratete Frauen immer noch mehr Kinder als nicht verheiratete.

»Die Zusammenhänge zwischen weiblicher Erwerbsbeteiligung, Familienstrukturen und Geburten sind längst nicht zureichend erforscht.«

Die Zusammenhänge zwischen weiblicher Erwerbsbeteiligung, Familienstrukturen und Geburten sind vielfältig und längst nicht zureichend erforscht. Ein eigenes Einkommen, Ergebnis der Beteiligung am Arbeitsmarkt, macht Frauen unabhängiger und hat gelockerte Partnerbeziehungen zur Folge. Letztere drücken, wenn alles andere gleich bleibt, auf die Geburtenrate, vor allem wenn prekäre Partnerschaften mit prekären oder auch besonders anspruchsvollen Beschäftigungsverhältnissen („Karrieren“) zusammentreffen. Dies gilt vor allem in der Mittelschicht, wo Frauen aus wirtschaftlicher Unsicherheit oder um ihres beruflichen Fortkommens willen, oder weil der gewünschte Partner nicht in Sicht beziehungsweise auf ihn kein Verlass ist, auf Kinder verzichten oder die Geburt von Kindern aufschieben – nicht selten bis es zu spät ist. Am unteren Rand der Gesellschaft, wo Armut herrscht, nehmen die Kinderzahlen in prekären Verhältnissen wieder zu, weil Frauen einen Ausgleich dafür suchen, dass sie weder bei der Arbeits- noch bei der Partnersuche Erfolg haben.

Gesellschaften brauchen Nachwuchs, um sich zu erneuern und zu erhalten – wie viel Nachwuchs ist strittig. Unstrittig ist aber, dass die reichen kapitalistischen Gesellschaften heute nicht mehr in der Lage oder nicht mehr bereit sind, den für eine konstante Bevölkerungszahl nötigen Nachwuchs selbst hervorzubringen; dies gilt sogar für bevölkerungspolitisch erfolgreiche Länder wie Schweden oder Frankreich. Gesellschaften, die die vom Tod laufend in sie gerissenen Lücken nicht selber zu füllen vermögen, können sich alternativ oder zusätzlich durch Einwanderung ergänzen. Einwanderer, wenigstens solche der ersten Generation, haben in der Regel höhere Geburtenraten als die einheimische Bevölkerung und tragen auch dadurch zur Stabilisierung der Bevölkerung bei. Der Preis dafür können sehr hohe Integrationskosten sein – die im traditionellen Normalfall der Selbstergänzung der Bevlkerung durch einheimische Geburten von den einheimischen Familien getragen werden – sowie soziale Konflikte, wie sie zurzeit in einigen europäischen Ländern immer weiter zunehmen, ohne dass ein Ende abzusehen wäre.

Gesellschaften, die sich als überaltert oder, mit dem Soziologen Franz-Xaver Kaufmann, „unterjüngt“ empfinden, können auch versuchen, trotz der Folgen veränderter Sozialstrukturen für einheimischen Nachwuchs zu sorgen. Auch das hat aber Kosten, nämlich in Gestalt der Ersetzung von früher unbezahlter Familienarbeit durch öffentliche oder private Dienstleistungen, vor allem bei der Pflege von Kleinkindern. Da es um die nächste Generation geht, kann die Qualität der außerfamilialen Versorgung nie hoch genug sein, was die Kosten ständig nach oben treibt. Die Ausweitung der Arbeitsmärkte schlägt sich damit, über den Umweg der Ausgliederung eines großen Teils der Kinderpflege aus den veränderten Familienstrukturen, in den staatlichen Haushalten als Ausweitung der Staatstätigkeit nieder.

»Die Ausweitung der Arbeitsmärkte schlägt sich – durch die Ausgliederung der Kinderpflege – in den staatlichen Haushalten als Ausweitung der Staatstätigkeit nieder.«

Staaten, die das nicht wollen, müssen ihre Arbeitsmärkte für Personen öffnen, die bereit sind, als private Kindermädchen den Nachwuchs der Mittelschicht zu versorgen – zu bezahlbaren, das heißt in der Praxis: sehr niedrigen Löhnen. In der Regel bedeutet dies zusätzliche Einwanderung, zusätzliche Konflikte und wachsende wirtschaftliche und soziale Ungleichheit, wobei die Einwanderer auf zweierlei Weise zur Erhöhung der Kinderzahlen beitragen: durch ihre eigenen Kinder und indem sie für die sogenannte „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ bei besserverdienenden Paaren oder Individuen sorgen. Der Paradefall sind hier die USA.

Gesellschaften, die Frauen wie Männer in „Karrieren“ einspannen und dabei den Arbeitseinsatz einer und eines jeden immer weiter steigern wollen oder müssen – auch, um gestiegene Humankapitalkosten zu amortisieren –, müssen in vielerlei Hinsicht umdenken. Da es immer weniger Ehen gibt, von stabilen Ehen gar nicht zu reden, müssen sie es den als Folge unverheirateten Frauen erleichtern, auch ohne verlässlichen oder dauerhaften Partner Kinder zu haben. Unehelichkeit muss sozial möglich und sozialpolitisch ermöglicht werden – sonst treten Verhältnisse ein wie in Japan oder Italien, wo beides nicht der Fall ist und wo deshalb die Geburtenraten niedriger sind als überall sonst in der OECD-Welt.

Reiche kapitalistische Gesellschaften der Gegenwart sind Arbeits- und Konsumgesellschaften

Im Übrigen sind die reichen kapitalistischen Gesellschaften der Gegenwart nicht nur Arbeits-, sondern auch Konsumgesellschaften. Konsumverhalten wird in ihnen kaum noch von materiellen Notwendigkeiten, sondern zunehmend von sozialen Normen bestimmt. Diese machen ebenso kostspielige wie Zeit beanspruchende „Erlebnisse“ - die Werbefachleute sprechen von „Erlebnis-Shopping“ - zur Voraussetzung für soziale Anerkennung und erheben sie so faktisch zu einer gesellschaftlichen Pflicht. Kinder, insbesondere mehrere auf einmal, erschweren die Ableistung obligatorisch gewordener Verbrauchs- und Erlebnispflichten, zumal wenn die Beschaffung der dafür erforderlichen materiellen Mittel intensives berufliches Engagement nötig macht. Bemühungen, jungen Paaren Kinder als Alternative zu Fernreisen oder SUVs schmackhaft zu machen, sind zwar vielerorts im Gang, scheinen aber bislang kaum erfolgreich zu sein.

Die politische Ökonomie des Geburtenverhaltens in den Gesellschaften des fortgeschrittenen Kapitalismus wirft schwierige moralische Probleme auf, nicht nur in Bezug auf Einwanderung und bei der Reproduktionsmedizin und ihren Möglichkeiten, die Gebärfähigkeit von Frauen an die von ihnen erwartete „Karriere“ anzupassen. Ein Thema, dem man sich stellen muss, ist die immer häufigere, oft nur implizite, immer öfter aber auch explizite Forderung nach etwas, das ich als „soziale Eugenik“ bezeichnen möchte. Diese bestünde darin, Familien nach der zu erwartenden „Qualität“ der von ihnen produzierten Kinder und nicht mehr nach ihrem materiellen Bedarf staatlich zu unterstützen.

»Wo zwischen guten und schlechten Kindern nach Maßgabe der Rentabilität unterschieden wird, beginnt der kapitalistische Totalitarismus.«

„Akademikerinnen“, so heißt es, bringen Kinder zur Welt, die als junge Erwachsene intelligenter, leistungsbereiter, angepasster und so fort sein werden als die, bedauerlicherweise, viel zahlreicheren Kinder von arbeitslosen Supermarktkassiererinnen auf Hartz IV. Sollte man diesen nicht die staatliche Unterstützung kürzen und das Geld jenen überweisen, damit die einen mehr und die anderen weniger Kinder bekommen? Man muss aber wissen: Wo zwischen guten und schlechten Kindern nach Maßgabe der voraussichtlichen Rentabilität ihres Humankapitals unterschieden wird, beginnt der kapitalistische Totalitarismus.

Dieser Beitrag erschien erstmals in Gesellschaftsforschung 2/2014 (Dezember 2014).

Ökonomische und partnerschaftliche Unsicherheiten und ihre Folgen für das Geburtenverhalten in Deutschland

Dissertationsprojekt von Annina T. Hering

In meiner Dissertation untersuche ich, wie das Zusammenspiel verschiedener Dimensionen von Unsicherheit in den Bereichen Partnerschaft und Erwerbsleben die Familiengründung und -erweiterung in Deutschland beeinflusst. Seit den 1970er-Jahren ist ein Wandel der familiären Strukturen zu beobachten, der häufig als „das Ende der Normalfamilie“ beschrieben wird. Die zunehmende Unverbindlichkeit von partnerschaftlichen Beziehungen und die damit verbundenen Ungewissheiten äußern sich etwa darin, dass weniger Ehen geschlossen werden, Scheidungen gesellschaftlich akzeptiert sind und Menschen sich später partnerschaftlich binden. All dies mündet in einem erhöhten Alter bei der Eheschließung und in der Zunahme von nicht ehelichen Geburten. Auch sind Beziehungsbiografien heute vielfach von mehreren Partnerschaften anstelle einer langen, kontinuierlichen Beziehung mit demselben Ehepartner geprägt.

Gleichzeitig führt die Liberalisierung und Deregulierung der Arbeitsmärkte dazu, dass Normalarbeitsverhältnisse erodieren und atypische Beschäftigungsverhältnisse zunehmen. Ob diese nun auch als prekär bezeichnet werden können, entscheidet der Grad der Benachteiligung nach ökonomischen und sozialen Gesichtspunkten. Infolgedessen sehen sich insbesondere junge Erwachsene in der Lebensphase der Familiengründung und -erweiterung mit „doppelten Unsicherheiten“ konfrontiert.

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen orientiert sich das Dissertationsprojekt an folgenden Fragen: Stehen die Unsicherheiten der Lebensbereiche Partnerschaft und Erwerbsleben in Wechselwirkung mit ihrem Einfluss auf das Geburtenverhalten? Welche Rolle kommt dabei den einzelnen Lebensbereichen zu? Lassen sich Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Einfluss von Unsicherheiten in Partnerschaft und Erwerbsleben auf die Familiengründung und -erweiterung ausmachen?

»Das heutige normative Mutterbild vermittelt die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Dennoch gibt es Frauen, die eine traditionelle Rollenverteilung innerhalb der Partnerschaft bevorzugen.«

Der Schwerpunkt der Analysen liegt auf der Lebenssituation von Frauen. Ich entwickelte eine theoretische Unsicherheiten-Typologie, die vier unterschiedliche Gruppen von Frauen identifiziert. Ausschlaggebend für die Typisierung ist, wie viel Stabilität beziehungsweise Unsicherheit eine Frau in Partnerschaft und Erwerbsleben erfährt. Hieraus ergeben sich unterschiedliche Auswirkungen auf das Geburtenverhalten. Auch wenn das heutige normative Mutterbild die Vereinbarkeit von Familie und Beruf vermittelt, gibt es Frauen, die eine traditionelle Rollenverteilung innerhalb der Partnerschaft bevorzugen, während wiederum andere Frauen lieber eine Karriere anstreben. Diese grundsätzlichen Präferenzen lassen einen unterschiedlichen Einfluss von Unsicherheiten in der Partnerschaft und dem Erwerbsleben auf das Geburtenverhalten erwarten. In meinen Analysen werte ich Paneldaten aus, die in einem jährlichen Rhythmus durch Fragebögen von denselben Befragten erhoben werden.

Ich gehe davon aus, dass künftig – wenn nicht vermehrt, so doch in jedem Falle gleichbleibend – viele Personen von Unsicherheit in Partnerschaft und Erwerbsleben betroffen sein werden. Das Dissertationsprojekt trägt somit nicht nur dazu bei, vergangene und aktuelle Entwicklungen des Geburtenverhaltens zu verstehen, sondern auch zukünftige demografische Entwicklungen in Deutschland zu erklären.

Annina T. Hering ist seit 2013 Doktorandin an der International Max Planck Research School on the Social and Political Constitution of the Economy (IMPRS-SPCE). Sie studierte Soziologie und Empirische Sozialforschung an der Universität zu Köln. Forschungsinteressen: Familiensoziologie; Demografie; Bedingungen und Folgen flexibler Arbeitsmärkte.


Geburtenraten und regionale Kulturen in Zeiten sozialen und ökonomischen Wandels

Dissertationsprojekt von Barbara Fulda

Die hohen Geburtenraten von 1,8 und mehr Kindern pro Frau in Schweden und Frankreich werden üblicherweise mit dem gut ausgebauten Kinderbetreuungssystem dieser Länder erklärt. Hierdurch ließen sich Familie und Beruf besser vereinbaren. Frauen ermöglicht es eine höhere ökonomische Unabhängigkeit. Im Gegensatz dazu wird Deutschlands niedrige Geburtenrate oft auf seine konservative Familienpolitik zurückgeführt, die mit einer weit verbreiteten, sozial konservativen Auffassung gegenüber der Institution Familie assoziiert wird. Doch die Beobachtung regional deutlich unterschiedlicher Geburtenraten von 1,14 bis 1,8 Kindern pro Frau in Westdeutschland widerspricht diesem einheitlichen Bild Deutschlands. Übliche Erklärungen für subnationale Unterschiede sind strukturelle Eigenschaften von Regionen und deren soziostrukturelle Bevölkerungszusammensetzung. Doch diese Faktoren können die Unterschiede nicht vollständig erklären.

Angesichts der Stabilität der regionalen Geburtenunterschiede in Deutschland zeigt sich, dass weder der Zusammenhang „mehr Geld, mehr Kinder“ gilt, noch dass eine hohe Anzahl an Kinderbetreuungsplätzen auch immer eine höhere regionale Geburtenrate zur Folge hat. Die in der demografischen Forschung verbreiteten quantitativen Studien stoßen hier an ihre Grenzen, da sie sich lediglich auf diese bekannten, messbaren Faktoren konzentrieren. Mein Dissertationsprojekt hilft, diese Forschungslücke zu schließen, indem es die kulturellen Eigenheiten von Regionen ergründet und damit einen weiteren plausiblen Erklärungsfaktor liefert.

Fürth in Bayern und Waldshut in Baden-Württemberg sind Landkreise, deren Fertilitätsraten kaum durch strukturelle Unterschiede erklärt werden können. Sie stellen deshalb besonders interessante Fälle dar, um den Einfluss von Kultur auf die Geburtenraten zu untersuchen. In beiden Regionen führte ich ethnografische Analysen und Interviews durch, um kulturelle Eigenheiten der Regionen zu untersuchen und zu benennen. Eine Studie regionalhistorischer Bedingungen, wie Erbrecht oder ehemalige Herrschaftsstrukturen, illustriert darüber hinaus, wie sich die regionalen Kulturen herausgebildet haben.

Im Ergebnis zeigt die Arbeit, dass junge Familien in ihren Entscheidungen für (weitere) Kinder durch ihr soziales Umfeld beeinflusst werden und dass hier soziale Interaktion und Beobachtung des eigenen sozialen Umfelds eine entscheidende Rolle spielen. Kulturelle Normen – genauer: spezifische Familienleitbilder und Leitbilder von Mutter- und Vaterschaft – bilden den Rahmen, in dem Lebensentscheidungen, wie diejenige für oder gegen Kinder, getroffen werden. So können beispielsweise regional unterschiedliche Familienleitbilder dem nationalen, positiv konnotierten Bild der erwerbstätigen Frau widersprechen.

Die Dissertation zeigt, dass die Widersprüche in den Leitbildern des engagierten Arbeitnehmers und des fürsorgenden Elternteils die unerwartet niedrige Fertilitätsrate in Waldshut erklären können. Herrscht in einer sogenannten modernisierten Region, wie in Fürth, eher ein gleichberechtigtes Geschlechtsrollenverständnis vor, ist es für Familien leichter, sich für Kinder zu entscheiden. In einem eher traditionellen Milieu wie dem Waldhuts entspricht auch das Familienverständnis nur bedingt einer gleichberechtigten Rollenverteilung, weshalb die Geburtenrate niedrig ausfällt. Der Einfluss regionaler Familienleitbilder erklärt somit, warum Entscheidungen nicht allein durch strukturelle Gegebenheiten bestimmt sind.

Barbara Fulda ist seit April 2014 Postdoc-Stipendiatin am MPIfG. Davor war sie Doktorandin an der International Max Planck Research School on the Social and Political Constitution of the Economy (IMPRS-SPCE). Sie studierte Sozialwissenschaften und Volkswirtschaftslehre an den Universitäten Köln und Bonn. Forschungsinteressen: Familiensoziologie; Bildungssoziologie; Wirtschaftssoziologie; Stadtsoziologie; Raumsoziologie und Demografie.


Viele Kinder, keine Arbeit: Mutterschaft als Anerkennungshoffnung und warum der Traum zerbrechlich ist

Dissertationsprojekt von Sara Weckemann

Simone B. ist sechsundzwanzig Jahre alt, arbeitslos und seit ihrem achtzehnten Lebensjahr von sozialstaatlichen Leistungen abhängig. Einen Partner hat sie nicht – aber aus drei vergangenen Beziehungen jeweils ein Kind. Zu den Vätern besteht keinerlei Kontakt.

Warum gründen Frauen wie Simone B. kinderreiche Familien, obwohl sie in instabilen ökonomischen und partnerschaftlichen Verhältnissen leben? Tun sie es, wie oftmals angenommen, um nicht arbeiten zu müssen oder um von sozialstaatlichen Transfers zu leben? Für meine Dissertation führte ich Interviews mit Müttern, die in zweierlei Hinsicht in unsicheren Verhältnissen leben: Sie sind nicht nur alleinerziehend oder leben in wechselnden Partnerschaften, sondern beziehen auch Hartz IV. Dabei stellte sich heraus, dass jene Frauen ihre Mutterschaft mit einer Hoffnung auf Anerkennung verknüpfen, die sie weder in engen Beziehungen noch in der Arbeitswelt finden können.

Dem Sozialphilosophen Axel Honneth gemäß können Individuen nur dann zu einem positiven Selbstverhältnis gelangen, wenn sie in drei Lebensbereichen – sogenannten Sphären – Anerkennung von anderen erfahren: in der Sphäre der Liebe, in der Sphäre des Rechts und in der Sphäre der Leistung. Solch eine Anerkennung ist für jeden Menschen ein Grundbedürfnis.

Für Mütter mit vielen Kindern, die Hartz IV beziehen, fallen jedoch allein schon zwei dieser Sphären aus: In der Sphäre der Liebe erfahren einige von ihnen bereits während der eigenen Kindheit Anerkennungsdefizite. Sie wachsen in emotionskargen Elternhäusern auf und werden vernachlässigt. Die daraus entstehenden Bindungsdefizite begünstigen, dass sie erstens früh und zweitens viele Kinder bekommen. Durch die eigene Mutterschaft erhoffen sie sich dann, die erlebte fehlende Anerkennung kompensieren und Bindungen aufbauen zu können. Anerkennungsdefizite in der Sphäre der Liebe zeigen sich außerdem in den Partnerschaften der Mütter. Sie zerbrechen leicht und können deshalb das Anerkennungsbedürfnis ebenfalls nicht langfristig sichern. Kinder erfüllen hier also zweierlei Funktion: Sie sollen die Beziehung zu den Partnern festigen und so familiären Zusammenhalt entstehen lassen. Zugleich sind sie aber auch die einzige Quelle für langfristige, emotionale Bindungen.

Verstärkt wird das Bedürfnis, in der Sphäre der Liebe anerkannt zu werden, dadurch, dass den Interviewten auch in der Sphäre der Leistung keinerlei Anerkennung zuteil wird. Aufgrund niedriger Bildungsabschlüsse und später auch aufgrund der familiären Situation ist der Zugang zu regulärer Erwerbsarbeit versperrt. Geringe Berufschancen führen wiederum dazu, dass Schwangerschaften erwünscht oder zumindest nicht verhindert werden. Letztlich entsteht ein Kreislauf, bei dem Schwangerschaften und sozialstaatliche Abhängigkeit sich wechselseitig bedingen.

»Die Frage, warum Kinder trotz ökonomischer und partnerschaftlicher Unsicherheiten geboren werden, ist irreführend.«

Die Frage, warum Kinder trotz ökonomischer und partnerschaftlicher Unsicherheiten geboren werden, ist letztlich also irreführend: Gerade wegen dieser Unsicherheiten werden Kinder geboren. Sind sie doch ein Garant für Anerkennung in einer Welt, in der in den Sphären der Liebe und der Leistung massive Defizite feststellbar sind.

Die Forschungsergebnisse sind nicht nur für die soziologische Theoriebildung zum Geburtenverhalten von Bedeutung, sondern auch von sozialpolitischer Relevanz: Sie zeigen, dass Kinder in Hartz-IV-Familien eben nicht mit der Absicht geboren werden, sozialstaatliche Transfers zu maximieren. Schwangerschaften sind hier viel eher von emotionalen und sozialen Bedürfnissen geleitet – und damit oftmals keine Folge kalkulierter Wahlakte.

Sara Weckemann war von 2011 bis 2014 Doktorandin an der International Max Planck Research School on the Social and Political Constitution of the Economy (IMPRS-SPCE) und Postdoc-Stipendiatin am MPIfG. Sie studierte Soziologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Forschungsinteressen: Wandel der Familienverhältnisse; soziale Ungleichheit; Bedingungen und Folgen flexibler Arbeitsmärkte.

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