Europa und der Brexit: „Soziales und gemeinsame Kultur betonen“

Interview mit Lisa Suckert

Lisa Suckert, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, plädiert für eine differenziertere Wahrnehmung der Brexit-Kampagne und der ökonomischen Identität Großbritanniens. Doch auch die EU sei gefragt: Sie müsse sich verändern, um die Bedürfnisse von Austrittsbefürwortern innerhalb der EU besser zu verstehen, gegenzusteuern und den europäischen Zusammenhalt zu stärken.

Die Fragen stellte Martin Roos.

Martin Roos: Nachdem 2016 die knappe Mehrheit der Briten für den Brexit gestimmt hat – was hat sie an der Reaktion der anderen EU-Mitglieder am meisten gestört?

Lisa Suckert: „Gestört“ hat mich nichts. Aber es war schon befremdlich, wie schnell viele versucht haben, diejenigen, die für den Austritt aus der EU gestimmt haben, in eine Schublade zu stecken. Da war von „Nationalisten“, „stumpfen Rassisten“ und „Ewig-Gestrigen“ die Rede, denen jedes Verständnis für ökonomische Zusammenhänge fehlt und die sich vor allem Fremdartigen fürchten. Natürlich war die Zuwanderung eines der wichtigen Themen und Teile der Leave-Kampagne waren klar fremdenfeindlich. Aber das alles nun auf diesen radikalen Nenner zu bringen, ist viel zu einfach. Man muss genauer hinsehen.

Inwiefern?

Die Brexit-Befürworter sind ein breites Bündnis, das von ganz rechts bis ganz links reicht und die EU aus sehr verschiedenen Perspektiven kritisiert. Für die einen ist die Europäische Union das neoliberale Feindbild, das zu wirtschaftsfreundlich ist und allein die freien Märkte im Sinn hat. Für die anderen greift die EU jedoch gerade zu stark in die Wirtschaft ein, sie wollen aus der EU raus, um endlich wirklich freie Märkte zu haben und noch globalisierter zu werden.

Ein Teil der Brexit-Befürworter wollte Migration begrenzen und zurück zu mehr nationaler Souveränität. Ein anderer Teil der Bewegung glaubte hingegen, die EU gehe schlecht und unmenschlich mit den Flüchtlingen um. Sobald man aus der EU raus sei, könne man das viel besser machen und wirklich international zusammenarbeiten. Es sind also stark widersprüchliche Meinungen, die rational gar nicht in Einklang zu bringen sind.

Welche Rolle kann die EU hierbei spielen?

Sie könnte ein Beitrag zur Lösung sein, wenn sie sich ändert. In vielen Mitgliedstaaten sind immer mehr Menschen unzufrieden mit der EU. Die EU hat sich schon viel zu lang in ihrem Bestreben, eine Union zu schaffen, fast ausschließlich auf die Wirtschaft und den freien Markt konzentriert.

Das hat bisher nicht sehr überzeugt. Zumindest nicht, was die europäische Integration angeht. Vielleicht sollte man, was die ökonomische Integration angeht, zurückfahren und viel stärker Sozialstandards und europäische Kultur in den Mittelpunkt der gemeinsamen Achse stellen. Und es würde sich bestimmt auch lohnen, noch mal ganz genau hinzuschauen, welche Bedürfnisse die Brexit-Befürworter zu ihrer Entscheidung bewogen haben, um daraus zu lernen.

Um was geht es den Brexit-Befürwortern grundsätzlich?

Die Gegenwart ist für viele – und wahrscheinlich ja nicht nur für die Briten – sehr komplex. Es herrscht der Eindruck, keine Entscheidungsmacht mehr über die eigene Lebenswelt zu haben, einer alternativlosen Zukunft ausgeliefert zu sein.

»Es herrscht der Eindruck, keine Entscheidungsmacht mehr über die eigene Lebenswelt zu haben, einer alternativlosen Zukunft ausgeliefert zu sein.«

Der Wunsch nach mehr Souveränität, nach einem Rückgewinn von Kontrolle, nach klaren Grenzen, all das ist in der Kampagne sehr dominant gewesen. Es geht dabei eher um Sehnsüchte nach einer Zeit und Welt, die als vermeintlich sicher und glücklich betrachtet wird. Für viele ist das die große Zeit des Britischen Empire und später des Commonwealth. Man wärmt sich an dieser Vergangenheit.

Aber das ist doch nur ein schöner Traum?

Das wird wohl so sein. Jedoch muss man wissen, dass viele Wählerinnen und Wähler 2016 abgestimmt haben, ohne die Konsequenzen eines Austrittes im Detail zu überlegen. Rund 70 Prozent derjenigen, die für den Brexit gestimmt haben, waren der Ansicht, dass der Ausgang des Referendums keinen großen Unterschied machen wird. Dass sich so oder so nicht viel ändern wird. Das dürfte, sollte es tatsächlich zu einem harten Brexit kommen, eine wirtschaftspolitische Fehleinschätzung sein.

Etwas zynisch könnte man heute sagen: So groß der Schlamassel jetzt auch ist, die Kampagne für den Brexit jedenfalls war sehr gut.

Was in der Kampagne sehr gekonnt bedient wurde, waren die britischen Traditionen. Es ging wie gesagt nicht um pure nationalistische Interessen. Es ging um die ökonomische Identität, also um die Frage, welche Wirtschaftsnation ein Staat sein will. Viele Deutsche sind beispielsweise sehr stolz darauf, Exportweltmeister zu sein, obwohl auch das eher eine ideell verankerte Identität ist. Rational gibt es viele Argumente gegen solch einen Handelsbilanzüberschuss.

Die Briten sehen sich noch heute gerne als Welthandelsmacht, als eine stolze Nation, die offen, weltgewandt und auf allen Meeren und Kontinenten zu Hause ist, aber das Heft in der Hand hat. Eingebunden in die Strukturen der EU fühlen sich heute viele Briten zu klein, zu unbedeutend.

Es ist ja nicht das erste Mal, dass sich die Briten aus europäischen Fesseln lösen. 1534 brach Heinrich VIII., König von England, mit Clemens VII., Papst in Rom, und gründete die anglikanische Kirche …

… und 1975 gab es schon einmal ein Referendum über einen Austritt aus der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Damals stimmten zwei Drittel der Briten für einen Verbleib.

Was waren 1975 die Argumente?

Im Grunde ganz ähnliche wie heute. Großbritannien träumte davon, wieder Weltmacht zu sein. Ein Teil der Briten wollte hierzu das Commonwealth reaktivieren und unabhängig bleiben. Für die EU-Befürworter sollte die Weltmacht Großbritannien hingegen das Zukunftsprojekt Europa aktiv mitgestalten. Insgesamt war damals aber die Stimmung optimistischer. Beide Seiten fragten sich, wie man innerhalb oder außerhalb der EU eine bessere Zukunft gestalten könne. 2016 ging es sowohl bei der Leave- als auch bei der Remain-Kampagne darum, wie man Risiken und Gefahren verhindern kann.

Die Vorstellungen von Zukunft waren damals und heute also anders?

Inhaltlich nicht wirklich. Aber es herrschte eine andere Grundstimmung. Die Zukunft wurde, anders als beim aktuellen Referendum, als etwas Offenes, Gestaltbares dargestellt.

»Wenn die Zukunft nicht mehr als offen und gestaltbar erachtet wird, kommt vieles zum Erliegen.«

Die Verheißung einer besseren Zukunft bringt uns dazu, uns fortzubilden, ein Unternehmen oder eine Familie zu gründen. Zukunftsvorstellungen spielen auch eine Rolle, wenn in Forschungsverbünden gemeinsam neue Technologien entwickelt werden, wenn Menschen sich in Parteien oder Gewerkschaften engagieren. Es ist für eine Gesellschaft zentral, wie sich ihre Mitglieder die Zukunft vorstellen. Wenn die Zukunft nicht mehr als offen und gestaltbar erachtet wird, kommt vieles zum Erliegen.

Wie sieht die „bessere“ Zukunft für die Briten aus?

Das ist schwer zu sagen, die Situation ist momentan verfahren. Das Land ist zutiefst in dieser Frage gespalten. Langfristig muss es den Briten gelingen, diese beiden widersprüchlichen Bedürfnisse zusammenzubringen, nämlich die Teilhabe an der Globalisierung sowie eine gewisse Abschottung und Kontrolle über den eigenen Wirtschaftsraum.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

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