„Ich sehe eine Gefahr für die Demokratie“
Interview mit Armin Schäfer
Armin Schäfer, Professor für Vergleichende Politikwissenschaft an der Universität Münster und Alumnus des MPIfG, ist im Wintersemester 2019/20 Scholar in Residence am MPIfG. Seine Forschungsschwerpunkte liegen an der Schnittstelle von Vergleichender Politischer Ökonomie und empirischer Demokratieforschung. In den vergangenen Jahren hat er sich mit dem Zusammenhang von sozialer und politischer Ungleichheit und den Ursachen des Nichtwählens befasst. Den schwindenden Einfluss der Volksparteien, das nachlassende politische Interesse in Teilen der Bürgerschaft und Protestwahlverhalten führt er auf eine wesentliche Ursache zurück: das Gefühl einiger Bevölkerungsgruppen, politisch nicht mehr repräsentiert zu werden. Mit seiner Forschung zeigt er, dass dieses Gefühl nicht täuscht, sondern tatsächlich berechtigt ist. Ein wichtiges Prinzip der Demokratie gerät damit ins Wanken: das Versprechen, sich um alle zu kümmern.
Das Interview führte Jürgen Zurheide.
Jürgen Zurheide: Herr Schäfer, Ihr Thema ist die spannende Frage der politischen Ungleichheit, über die Sie viel geforscht haben. Hat wachsende Ungleichheit etwas mit dem Aufstieg des Populismus zu tun?
Armin Schäfer: Mich hat in den letzten Jahren besonders beschäftigt, welche Personengruppen sich an Politik beteiligen und ob sich ungleiche Beteiligung auf das auswirkt, was politisch entschieden wird. Mein Forschungsteam hat festgestellt, dass politische Entscheidungen des Bundestags zulasten von Menschen mit geringerem Einkommen, geringerer Bildung oder Berufsgruppen mit niedrigerer Bezahlung verzerrt sind. Das wiederum kann tatsächlich eine Triebfeder für Protestverhalten sein: Weil sie sich nicht mehr vertreten fühlen, wenden sich die Menschen von der Politik ab und bleiben zu Hause oder sie geben ihre Stimme populistischen Parteien.
Beteiligung hat etwas mit sozialem und ökonomischem Status zu tun. Nehmen wir das Beispiel Essen: Da gibt es Wahlbezirke wie Essen-Mitte, sozial stark benachteiligt, dort liegt die Wahlbeteiligung nur noch bei 10 Prozent. Im Essener Süden ist man durchaus noch bei 80 bis 90 Prozent. Kann man dieses Beispiel auf andere Städte übertragen?
Das ist das Muster, das wir uns für drei Bundestagswahlen, also 2009, 2013, 2017 angeschaut haben. Und in allen deutschen Großstädten, für die es diese Daten gibt, ist das Ergebnis eindeutig: Je ärmer ein Stadtteil ist, je höher die Arbeitslosenquote in einem Stadtteil ist, desto geringer ist die Wahlbeteiligung. Das gilt überall, also nicht nur in Essen oder im Ruhrgebiet, sondern auch in Städten wie Hamburg, München oder Leipzig.
Wenn wir mal in die USA schauen: Kann man Donald Trump auch so erklären, dass Partizipation und Wahlbeteiligung etwas zu tun haben mit sozialem Status?
In den USA ist die Wahlbeteiligung ebenfalls sehr ungleich. Dort hat Trump allerdings bestimmte Gruppen wieder mobilisiert und für Politik interessieren können, die vorher politikfern waren. Er hat Menschen aus der Mittelschicht und der Arbeiterklasse zurückgeholt, die in Regionen leben, die über einen längeren Zeitraum einen Niedergang erlebt haben. Das sind ehemalige Industrieregionen, die zum Teil schon über Jahrzehnte abgestiegen sind. Er hat durch Unterstützung in diesen Regionen Staaten im mittleren Westen gewonnen und sich so eine Mehrheit an Stimmen im Wahlkollegium, dem Electoral College, sichern können.
»Je ärmer ein Stadtteil ist, desto geringer ist die Wahlbeteiligung.«
So etwas gelingt der AfD in Deutschland auch.
Die AfD mobilisiert einen Teil der früheren Nichtwählerinnen und Nichtwähler. Der größere Teil bleibt allerdings weiterhin zu Hause. Durch die stärkere Polarisierung beteiligen sich insgesamt mehr Menschen, manche wollen einen Denkzettel verteilen, andere wollen aber Wahlerfolge von Populisten gerade verhindern. Insofern ist das Bild ein bisschen komplizierter. Aber vermehrte Protestwahl zeigt uns, dass es in der Bevölkerung Gruppen gibt, die das Gefühl haben, bislang nicht repräsentiert zu sein. Sie haben nicht den Eindruck, dass die etablierten Parteien zu ihnen sprechen, ihnen etwas anbieten und dass sich ihre eigene Lage dadurch verändern könnte.
Die entscheidende Frage für mich lautet: Warum verzichten Menschen darauf zu wählen? Tragen sie nicht selbst die Verantwortung dafür, wenn sie zu Hause zu bleiben?
Zunächst einmal wissen wir: Wählen und Nichtwählen sind ansteckend. Man entscheidet also nicht rein individuell, ob man wählen geht oder nicht, sondern das hat auch etwas zu tun mit der Familie, dem Freundeskreis, vielleicht auch mit der Gegend, in der man lebt.
Ob Politik überhaupt ein Thema ist?
Genau. Ob jemand sonntags beim Bäcker fragt: Hast du schon gewählt? Oder ob niemand auf die Idee kommt, eine solche Frage zu stellen. Das hängt davon ab, wer man ist und mit wem man zu tun hat. Ein zweiter Aspekt ist: Wenn Politik ungleich auf unterschiedliche Gruppen reagiert, dann droht ein Teufelskreis. Wer sich nicht vertreten fühlt, wählt nicht – und wer nicht wählt, wird schlechter repräsentiert. Im Ergebnis verzerrt dieses Wechselspiel politische Entscheidungen noch stärker zugunsten derjenigen, die sich beteiligen und denen es ohnehin besser geht.
»Wählen und Nichtwählen sind ansteckend.«
Das heißt, die Repräsentation in den Parteien und damit die Repräsentation in den Parlamenten entsprechen immer weniger dem Querschnitt der Bevölkerung?
Richtig, die Aktiven unterscheiden sich relativ stark von der Bevölkerung insgesamt. Mehr als 80 Prozent der Abgeordneten des Bundestags haben studiert, in der Bevölkerung sind es weniger als 20 Prozent. Auch Beamte, Unternehmer oder Juristen sind in den Parlamenten weit häufiger als in der Bevölkerung anzutreffen. Das zeigt: Zwischen denen, die die politischen Entscheidungen treffen, und denen, die von den politischen Entscheidungen betroffen sind, gibt es deutliche Unterschiede.
Was heißt das für die politischen Entscheidungen?
Wir haben versucht, dieser Frage systematisch nachzugehen. In unserem Forschungsprojekt haben wir alle Sachfragen erfasst, die in Umfragen erhoben wurden – von 1980 bis in die Gegenwart. Für jede einzelne dieser Fragen, insgesamt über 700, haben wir festgehalten, wer für eine Politikveränderung und wer dagegen war, kategorisiert nach Einkommen, Bildung, Berufsgruppe etc. In einem zweiten Schritt haben wir erhoben, was am Ende entschieden wurde. Wenn man diese beiden Informationen zusammenbringt, zeigt sich ein sehr klares Muster: Die Entscheidungen des Bundestags haben in den letzten dreißig Jahren sehr viel häufiger mit den Präferenzen von Menschen übereingestimmt, die hohe Einkommen haben oder denen es insgesamt besser geht. Sehr viel seltener gab es Übereinstimmungen mit den Präferenzen der Ärmeren. Und diese Diskrepanz ist dann besonders groß, wenn Arm und Reich verschiedene Dinge wollen.
Spielt Lobbyismus da eine Rolle? Oder ist es ein kulturell-ökonomisches Phänomen, wie Sie es gerade beschrieben haben? Denn am Ende haben die wirkmächtigeren Gruppen immer automatisch auch mehr Geld und beeinflussen die Politik stärker?
Wir konnten das nicht bis ins letzte Detail klären, einfach aufgrund der Fülle von Fragen. Aber ich vermute, dass beide Faktoren wichtig sind. Einerseits haben wir dieses immer homogener werdende Parlament, und wir wissen, dass die politischen Einstellungen der Abgeordneten stärker mit denen von Menschen übereinstimmen, die ihnen ähnlich sind: Menschen mit hoher Bildung und hohem Einkommen.
»Interessen ärmerer Menschen werden weniger berücksichtigt.«
Andererseits ist Politik nicht frei von Einflussnahme, Lobbyismus ist wichtig. Bestimmte Interessengruppen wie Großunternehmen oder wichtige Industriezweige finden natürlich leichter Gehör in der Politik als „normale“ Menschen, die im Zweifel gar nicht wissen, an wen sie sich wenden sollten oder wie sie das tun können.
Ich könnte jetzt das Stichwort Dieselkrise nennen oder ich könnte sagen, bei der Finanztransaktionssteuer ist grade der Hochfrequenzhandel aus den Papieren verschwunden. Das sind typische Beispiele für aktiven Lobbyismus und den Einfluss kleiner, finanzkräftiger Gruppen.
Ja. Ohne dass sich das im Einzelfall immer nachweisen ließe, kann man annehmen, dass bestimmte Interessengruppen dafür sorgen, dass keine Politik gegen sie gemacht wird, oder dass sie sich zumindest Zeit erkaufen, indem Entscheidungen verzögert werden.
Wir haben eine sozial und ökonomisch und am Ende politisch gespaltene Gesellschaft. Das ist Ihr Befund. Wie können wir aus diesem Teufelskreis herauskommen und verhindern, dass die Demokratie weiter gefährdet wird? Welche Möglichkeiten sehen Sie als Politikwissenschaftler?
Demokratie beinhaltet das Versprechen, dass eben nicht nur Interessen von bestimmten Gruppen berücksichtigt werden, sondern dass sehr viele unterschiedliche Gruppen zumindest die Chance haben, dass ihre Anliegen sich in politische Entscheidungen übersetzen. Und wenn das systematisch nicht der Fall ist, dann wird das Versprechen der Demokratie, dass man sich um alle kümmert, gebrochen. Und deswegen sehe ich darin eine Gefahr für die Demokratie.
Die zweite Frage wäre jetzt: Wie kann man diesen Mechanismus brechen, welche Ideen gehen Ihnen durch den Kopf?
Die Parteien könnten sich selbst anpassen, durch veränderte Rekrutierungsmuster. Wir wissen, dass Menschen sich nicht einfach spontan politisch beteiligen, sondern dies eher tun, wenn sie aktiv angesprochen und zur Mitgliedschaft ermutigt werden. Die Parteien müssen genauer darauf achten, wen sie ermutigen. Das geschieht ja bereits teilweise mit Blick auf Frauen oder, in geringerem Ausmaß, mit Blick auf Migranten. Parteien sollten nicht ausschließlich diejenigen zur Kandidatur ermuntern, die einen Universitätsabschluss haben. Diesen Mechanismus können die Parteien selbst angehen und müssten dafür keine Gesetze ändern.
Ein weiterer Punkt könnte das Wahlrecht sein. Unser Wahlrecht führt zu einer großen Konsensmaschine, zumal der Föderalismus die mögliche Große Koalition noch größer macht. Welche Zusammenhänge sehen Sie da?
Wir unterscheiden zwischen Mehrheitsdemokratien, in denen oft eine Partei alleine regieren kann, und Konsensdemokratien, in denen es zahlreiche Zwänge gibt, miteinander zu verhandeln und zu gemeinsamen Lösungen zu kommen. In Deutschland erzwingt das Wahlsystem eigentlich immer, dass sich eine Koalitionsregierung aus mehreren Parteien bildet.
Gleichzeitig haben wir ein föderales System, das bei vielen politischen Entscheidungen bewirkt, dass die Verhandlungen noch auf weitere Parteien ausgeweitet werden müssen. Die Regierungsparteien müssen sich nicht nur untereinander einigen, sondern müssen in vielen Fällen zusätzlich die Grünen oder die FDP gewinnen, weil diese in Landesregierungen vertreten sind. Viele Entscheidungen sind im Ergebnis ein Kompromiss über vier, fünf Parteien hinweg. Am Ende ist nur noch schwer zu erkennen, wer wofür verantwortlich war, wer seine eigene Linie durchsetzen konnte. Das ist in anderen politischen Systemen weniger stark ausgeprägt.
Noch einmal zurück in die USA: Wird Trump die Wahl wieder gewinnen oder nicht, wagen Sie eine Prognose?
Darauf kann es hinauslaufen. Ja.