Partnergruppe des MPIfG: Ein Zentrum für Wirtschaftssoziologie in Chile

Interview mit Felipe González López

17. September 2024

Felipe González López, ehemaliger Doktorand am MPIfG, hat in Chile eine Forschungsgruppe ­aufgebaut, die sich mit der Politik wirtschaftlicher Erwartungen in der Öffentlichkeit beschäftigt – ein Thema, das sowohl mit seiner eigenen Forschung als auch mit der des MPIfG verknüpft ist. Die an der Universidad Central de Chile ­angesiedelte Gruppe wird von der Max-Planck-Gesellschaft ermöglicht und gefördert. Mit den sogenannten Max-Planck-Partner­gruppen unterstützt die Max-Planck-Gesellschaft junge Wissenschaftlerin­nen und Wissenschaftler, die an Max-Planck-Instituten geforscht haben und in ihr Heimatland zurückkehren. Im Interview erklärt González López, wie die Gruppe sich formierte und wie insbesondere auch die Forschungslandschaften wissenschaftlich aufstrebender Länder von solchen Forschungspartnerschaften profi­tieren.

Das Interview führten Anna Röttger und Susanne Berger.

Dr. González López, Ihre „Max-Planck-Partnergruppe zur Erforschung von Ökonomie und Öffentlichkeit“ untersucht die Interaktionen zwischen Akteuren in Wirtschaft und Politik und wie diese die öffentliche Wahrnehmung von wirtschaftlichen Prozessen beeinflussen. Was hat Sie motiviert, sich gerade mit diesem Thema zu beschäftigen?
Nach meiner Rückkehr nach Chile im Jahr 2015 habe ich an der Fakultät für Politikwissenschaft und öffentliche Verwaltung der Universidad Central de Chile gearbeitet, wo ich zusammen mit Kolleginnen und Kollegen ein innovatives Observatorium eingerichtet habe, um die Wechselwirkungen zwischen sozialen Medien und Demokratie zu untersuchen. Die große Resonanz auf diese Forschung lenkte einen Teil meines Interesses in Richtung Medienstudien und die Dynamik von Informationen im öffentlichen Raum.

Genau zu dieser Zeit wendete sich die Wirtschaftssoziologie hin zur Untersuchung wirtschaftlicher Erwartungen, für die Jens Beckerts Buch Imaginierte Zukunft (2016) den Anstoß gab. So erkannte ich, dass kommunikative Phänomene in der öffentlichen Sphäre eine entscheidende Rolle beim Entstehen wirtschaftlicher Erwartungen spielen und zugleich erhebliche Auswirkungen auf politische Entwicklungen, Präferenzen und Wahlverhalten haben.

Daraus entstand die Idee, die beiden Disziplinen Wirtschaftssoziologie und Kommunikationswissenschaft miteinander zu verbinden und auf diesem Wege die Dynamik von Wirtschaftsnachrichten und deren Einfluss auf die öffentliche Meinung und politische Entscheidungen zu erforschen. Dabei konzentriere ich mich mit meiner Gruppe auf den negativen Bias in den Wirtschaftsnachrichten und die Diskrepanz zwischen objektiver und subjektiver Wirtschaftswahrnehmung, die durch Medienberichterstattung entsteht.

Was war Ihnen bei der Einrichtung der Partnergruppe besonders wichtig?
Besonders lag mir am Herzen, mit dem Projekt eine langfristige und konsistente Forschungsrichtung vorzugeben, die eng mit dem Forschungsprogramm des MPIfG verzahnt ist. Die Anpassungsfähigkeit der Gruppe in Bezug auf Forschungsthemen und Aktivitäten war dabei entscheidend. Durch die Vielfalt ihrer Mitglieder aus verschiedenen Institutionen und auf unterschiedlichen Karrierestufen kann die Gruppe stets flexibel agieren – sowohl was ihre Größe, ihren Fokus und den Ressourceneinsatz anbelangt. In den ersten zwei Jahren gelang es uns so, eine solide Forschungsagenda zu etablieren, die sich zu einem breiteren Konzept entwickelte, das von führenden Forschenden, einem Forschungsinstitut und einem Doktorandenprogramm getragen wird. In dem Graduiertenprogramm, das eine starke internationale Ausrichtung hat, werden Trends, Entwicklungen und Krisen in kapitalistischen Gesellschaften erforscht.

Der Start der Partnergruppe fiel mit dem Lockdown aufgrund der weltweiten COVID-19-Pandemie zusammen. Wie sind Sie mit dieser Herausforderung umgegangen?
Der Aufbau der Partnergruppe während des Lockdowns war eine enorme Herausforderung, da internationale Kooperationen normalerweise ein hohes Maß an Mobilität und Planungssicherheit erfordern. Trotz dieser Schwierigkeiten gelang es uns, Wirtschafts- und Gesellschaftsforschung als Schwerpunkt in unserer Fakultät fest zu verankern. Diese Anstrengungen führten im dritten Jahr zu finanzieller Unterstützung für ein stärkeres Team, das wir nun in internationale Forschungsnetzwerke integrieren, beispielsweise durch Workshops in Santiago de Chile, Teilnahme an internationalen Konferenzen und Besuche am MPIfG.

Inwieweit können Sie zum jetzigen Zeitpunkt Ihrer Karriere von der Zusammenarbeit zwischen den beiden wissenschaftlichen Institutionen MPIfG und Universidad Central de Chile profitieren?
In erster Linie geht es darum, eine gemeinsame Forschungsagenda zu entwickeln und zu fördern. Mit der Partnergruppe ist es uns gelungen, einen multidisziplinären Arbeitsraum mit langfristigen Perspektiven zu etablieren. Unsere Vision für die Zukunft ist es, eine fortlaufende Zusammenarbeit mit dem MPIfG und anderen Forschungseinrichtungen in Lateinamerika zu etablieren. Zweifellos hat die Partnergruppe auch meiner akademischen Laufbahn einen bedeutenden Schub in Richtung Forschungsleitung und -management in den Sozialwissenschaften gegeben.

Welche Zukunftsperspektiven sehen Sie in Ihrem Forschungsbereich?
Wir stehen jetzt an einem wichtigen Punkt: Aus den vielfältigen Kollaborationen und dem Austausch innerhalb der Gruppe soll ein gemeinsamer Forschungsschwerpunkt entwickelt werden. Die individuellen Forschungsziele und Interessen jedes Mitglieds haben durch den gegenseitigen Einfluss zu neuen Fragestellungen geführt, die über traditionelle Ansätze hinausgehen. So untersucht die Gruppe zum Beispiel den Einfluss von Haushaltsverschuldung auf sozialen Protest und politische Beteiligung sowie die Rolle sozioökonomischer Heterogenität in interpersonalen Netzwerken auf Konsum- und Verschuldungspraktiken. Damit wollen wir besser verstehen lernen, wie sozioökonomische Prozesse auf Mikroebene breitere soziale Phänomene wie Depolitisierung und gesellschaftlichen Zusammenhalt beeinflussen. Die Gruppe hat sich vorgenommen, ihre individuellen Forschungsschwerpunkte weiter zu verzahnen, um ein umfassenderes Verständnis sozialer Prozesse zu fördern.

Welchen Beitrag wollen Sie mit Ihrer Partnergruppe in den kommenden Jahren leisten?
Der bedeutendste Beitrag wird die Institutionalisierung der Wirtschaftssoziologie in Chile durch die Entwicklung einer innovativen Forschungsagenda sein, die Traditionen, Fragen und Methoden verbindet. Die Ausbildung von neuen Doktorandinnen und Doktoranden in dem neuen Graduiertenprogramm ab 2024 erachte ich als wesentlichen Bestandteil davon. Wir planen, ein größeres Forschungsteam mit guter Ausstattung, mehreren Promovierenden sowie erfahrenen Gastprofessorinnen und -professoren aufzubauen. Dies ist ein bedeutender Schritt für unsere Universität und stärkt die Entwicklung dieses wichtigen Forschungsfeldes. In der Vergangenheit mussten viele der chilenischen Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler ins Ausland gehen, um sich in diesen Bereichen zu spezialisieren und fachlich weiterzuentwickeln. Nun haben wir mit unserer Partnergruppe einen Raum für Forschung und Lehre geschaffen. Wir freuen uns daher sehr auf die Mitarbeit der neuen Promovierenden und sind gespannt, wohin uns diese Phase des Projekts führen wird.

Welchen Rat würden Sie Nachwuchsforschenden geben, die ein solches Projekt verfolgen möchten?
Junge Forschende sollten die Partnergruppe als Gelegenheit wahrnehmen, eine intellektuelle Gemeinschaft am eigenen Standort zu etablieren, die eigene Wachstums- und Entwicklungswege erkennen und verfolgen kann. Durch den Aufbau starker Kollaborationsnetzwerke und die Entwicklung eines Ausbildungsprogramms für kommende Generationen kann das Projekt langfristig über seine offizielle Laufzeit hinauswirken. Die nachhaltige Wirksamkeit solcher Initiativen macht sie besonders wertvoll.

Aktuell erforscht das zehnköpfige Team der Max-Planck-Partnergruppe in Santiago de Chile unter der Leitung von Felipe González López die Dynamik zwischen Wirtschaft und Gesellschaft. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf aktuellen Trends, Krisen und den Folgen kapitalistischer Entwicklungen. Die Stärke der Partnergruppe liegt in der interdiszipli­nären Zusammensetzung und der methodischen Vielfalt, die Wirtschaftssoziologie, Soziologische Anthropologie, Entwicklungsökonomie, Politikwissenschaft, Politische Soziologie und Politische Ökonomie vereint. Die Forscherinnen und Forscher nutzen ein breites methodisches Spektrum, von ethnografischen Ansätzen und historischen Methoden bis zu multivariaten Analysen und experimentellen Verfahren. 
  • Die Ökonomin Gabriela Zapata erforscht die Auswirkungen struktureller Transformationen auf Arbeitsmarktungleichheiten in Chile. Die Anthropologin Paz Concha konzentriert sich auf Kulturökonomie, Wirtschaftssoziologie und Urbanistik aus ethnografischer Perspektive. 
  • Valeria Scapini hingegen forscht in den Bereichen Umwelt, Gesundheit, angewandte Wirtschaftswissenschaften für die öffentliche Politik und Umwelt im Zusammenhang mit Naturkatastrophen. 
  • Aus einer eher traditionellen wirtschaftssoziologischen Perspektive konzentriert sich Gabriel Chouhy auf die Soziologie der Märkte, die Soziologie der Expertise und die vergleichende historische Soziologie, um verschiedene Marktinstrumente zu untersuchen, die als Werkzeuge der öffentlichen Politik eingesetzt werden. 
  • Gabriel Otero kombiniert Soziologie und Stadtforschung, um mittels quantitativer Methoden zu erforschen, wie sozio­ökonomische Konfigurationen von interpersonalen Netzwerken verschiedene Überzeugungs- und Präferenzmuster in der Gesellschaft beeinflussen. 
  • Ismael Puga integriert empirische und theoretische Arbeiten zu kollektiven Aktionen und Protesten, zur Legitimation von Ungleichheiten und kapitalistischen Gesellschaftsverhältnissen sowie zur Frage der Ideologie. 
  • Ignacio Schiappacasse erforscht die Rolle der Wirtschaftseliten in lateinamerikanischen Entwicklungsmodellen. 
  • Felipe González López untersucht gemeinsam mit Matías Gómez die Prozesse der Finanzialisierung der Gesellschaft, vor allem die Auswirkungen von übermäßiger Kreditabhängigkeit auf soziale Schichtungsmuster. Ein weiterer Fokus liegt auf der Politisierung von Kredit und Schulden und der Frage, unter welchen Umständen Verschuldung zu kollektivem Handeln führt.

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