Kapitalismus braucht Wachstum – aber es gibt kein Patentrezept
Lucio Baccaro
Bis etwa 1990 basierte das Wachstum der großen europäischen Länder auf stetem Lohnwachstum. Gemäß diesem Modell wuchsen die Reallöhne im gleichen Maße (oder teilweise sogar schneller) als die Arbeitsproduktivität und beförderten damit den Konsum privater Haushalte. Die Aussicht auf eine expandierende Nachfrage regte wiederum Unternehmen zu Investitionen an. Dies führte tendenziell zu weiteren Produktivitätssteigerungen, da neue Investitionen den Einsatz innovativer technologischer Lösungen begünstigten. Darüber hinaus ergaben sich Skaleneffekte durch die wachsende Nachfrage – ein weiterer Mechanismus, durch den die Arbeitsproduktivität steigen konnte.
»Das lohnorientierte Wachstumsmodell in seiner ursprünglichen Form existiert nicht mehr.«
In seiner ursprünglichen Form existiert das lohnorientierte Wachstumsmodell heute nicht mehr. Es wurde sowohl durch nationale als auch durch internationale Entwicklungen untergraben. Zum einen neigte der Lohndruck dazu, Inflation zu erzeugen. Der Kampf gegen die Inflation führte schließlich zu einer Reihe von politischen und institutionellen Reformen, die in der Folge einen gleichmäßigen Anstieg von Reallöhnen und Produktivität erschwerten. Die Einführung unabhängiger Zentralbanken, die Inflationsziele vorgeben, gehörte dazu. Darüber hinaus machte es die Liberalisierung des Kapitalverkehrs den nationalen politischen Entscheidungsträgern unmöglich, die nationalen Zinssätze unter das Zinsniveau der internationalen Märkte zu senken. Dadurch wurden Investitionen empfindlicher gegenüber den Gewinnraten. Und schließlich erhöhte die Ausweitung des internationalen Handels die systemische Bedeutung der Lohnzurückhaltung.
In einem lohnorientierten Wachstumsmodell verlangsamt die Reallohnzurückhaltung tendenziell die Wirtschaft. Die nominale Lohnzurückhaltung (ohne Berücksichtigung der Kaufkraft) hingegen begünstigt die Exporte gegenüber den Importen, wenn sie zu einer geringeren inländischen Inflation als bei den Handelspartnern führt und nicht durch eine nominale Wechselkursaufwertung wieder wettgemacht wird. Bei hinreichend offenen Volkswirtschaften wirkt sich die Lohnzurückhaltung expansiv aus, das heißt, der dämpfende Effekt auf die Inlandsnachfrage wird durch den expansiven Effekt auf den Außenhandel mehr als ausgeglichen.
Wachstumsmodelle im Umbruch
Entwickelte kapitalistische Volkswirtschaften sind seit mehreren Jahrzehnten drei bedeutenden ökonomischen Trends unterworfen: erstens der Liberalisierung von wirtschaftlichen Institutionen des Arbeitsmarkts wie etwa gewerkschaftliche Organisation oder Arbeitnehmerschutz; zweitens einer Verschiebung in der funktionalen Einkommensverteilung weg vom Arbeitseinkommen hin zum Kapitaleinkommen; sowie drittens der zunehmenden Schwierigkeit, ein angemessenes Niveau der Gesamtnachfrage zu erzeugen, um Produktionsfaktoren, insbesondere Arbeit, wirkungsvoll zu nutzen. Letzteres ist eine Entwicklung, die als „säkulare Stagnation“ bezeichnet wird und der vom US-amerikanischen Ökonomen Larry Summers vor wenigen Jahren international zu neuer Popularität verholfen wurde.
Diese drei Trends überschneiden sich nicht nur zeitlich, sondern stehen auch in einem kausalen Zusammenhang: Die Liberalisierung der Arbeitsmarktinstitutionen führt zu einem Rückgang der Lohnquote, des Anteils der Arbeitnehmereinkommen am Volkseinkommen. Das wiederum dämpft die Gesamtnachfrage, indem die Nachfrage nach Konsumgütern und Dienstleistungen tendenziell stagniert, während die Nachfrage nach Finanzanlagen und das damit verbundene Streben nach Rendite zunimmt. Diese Entwicklungen beeinflussen die Wachstumsmodelle kapitalistischer Volkswirtschaften erheblich, da sie die Tragfähigkeit des lange vorherrschenden lohnorientierten Wachstumsmodells schwächen.
Um dem Problem einer unzureichenden Gesamtnachfrage zu begegnen, suchen die politischen Akteure auf nationaler Ebene heutzutage nach alternativen Nachfragetreibern. Hierbei sind zwei alternative Strategien zu beobachten: Entweder wird die Wirtschaft weiterhin wie im alten lohnorientierten Modell vom Konsum der Haushalte angetrieben. Der Konsum wird in diesem Fall jedoch weniger durch die Reallöhne, sondern vielmehr durch einen leichteren Zugang der Haushalte zur Verschuldung finanziert. Bei der zweiten Alternative wird die Nachfrage aus dem Ausland zum Wachstumstreiber, was die Exporte stimuliert und häufig zu hohen Handelsüberschüssen führt. Es ist jedoch auch durchaus möglich, dass kein alternativer Wachstumstreiber gefunden wird. Dann kommt es zu einer lang anhaltenden Stagnation.
Die Entstehung neuer Wachstumsmodelle in der Vorkrisenzeit
Blickt man auf die fünfzehn Jahre vor der Weltfinanzkrise im Jahr 2008, so lassen sich vier neue Wachstumsmodelle erkennen, die das lohnorientierte Wachstumsmodell ersetzt haben und die von vier europäischen Ländern prototypisch repräsentiert werden: ein konsumorientiertes Modell, wie es Großbritannien verkörpert, ein exportorientiertes Modell, wie es von Deutschland verfolgt wird, ein export- und konsumorientiertes Modell in Schweden und das weder export- noch konsumorientierte Modell Italiens.
»Vier neue Wachstumsmodelle haben das lohnorientierte Modell ersetzt.«
In Großbritannien erleichterte der Zugang zu Krediten in der Vorkrisenzeit ein „konsumorientiertes“ Wachstum. Eine Besonderheit war hier die Tendenz zur Anhäufung von Leistungsbilanzdefiziten. Das heißt, es wurden mehr Güter importiert als exportiert. Unter normalen Umständen hätten diese Defizite durch eine Verringerung der Binnennachfrage und der Einfuhren korrigiert werden müssen. Wenn die übrige Welt jedoch bereit ist, das Leistungsbilanzdefizit zu finanzieren, dann kann es über viele Jahre hinweg beibehalten werden. Ein großes und liquides Finanzzentrum wie die City of London trägt dazu bei, ausländisches Kapital anzuziehen und damit die Leistungsbilanzrestriktionen für das Wachstum zu lockern. Denn es produziert Finanzanlagen, die der Rest der Welt in seinem Portfolio halten will.
Das exportorientierte Wachstumsmodell Deutschlands war beinahe das Gegenteil des konsumorientierten Modells. Es beruhte auf drei Elementen: einem Exportsektor, der groß genug war, um als Lokomotive für die Gesamtwirtschaft zu fungieren, einer institutionalisierten Lohnzurückhaltung und einem festen Wechselkurssystem. Die beiden letztgenannten Elemente führten zu einer Unterbewertung des realen Wechselkurses, was tendenziell die Exporte stimulierte und die Importe drückte. Schwedens Wachstumsmodell konnte bis vor der Krise die beiden Wachstumstreiber Konsum und Export kombinieren, während es nach der Krise konsumorientierter wurde. Anders als in der deutschen Wirtschaft, in der das verarbeitende Gewerbe eine vorherrschende Stellung hatte, wurden die schwedischen Exporte vielfältiger, wobei der IT-Sektor sowie wertschöpfungsintensive Dienstleistungssektoren an Bedeutung gewannen. Diese Sektoren waren weniger preissensitiv als das verarbeitende Gewerbe. Gleichzeitig waren die Reallohnzuwächse nicht nur höher als in Deutschland, sondern verteilten sich auch gleichmäßiger auf das wertschöpfungsintensive verarbeitende Gewerbe und den weniger ertragreichen Dienstleistungssektor. Zusammen mit einer wachsenden Verschuldung der Haushaltestimulierte dies auch den Konsum in Schweden.
Es ist allerdings möglich, dass ein Land keinen tragfähigen Ersatz für ein lohnorientiertes Wachstum findet und daher in die Stagnation gerät. Dies illustriert der Fall Italiens seit den Neunzigerjahren. Der Wachstumsbeitrag der privaten Haushalte ist in Italien im Lauf der Zeit zurückgegangen. Der Beitrag der Exporte hat sich in letzter Zeit zwar erhöht, aber der italienische Exportsektor ist nach wie vor zu klein, um ein bedeutender Wachstumstreiber zu sein. Und die Nettoexporte werden durch einen realen Wechselkurs belastet, der für die Bedürfnisse des Landes aufgrund des Euros zu hoch ist.
Gesellschaftliche Koalitionen und Parteipolitik
Es wird angenommen, dass sogenannte dominante gesellschaftliche Koalitionen das Wachstumsmodell des betreffenden Landes stützen. Zu den Koalitionen gehören insbesondere Repräsentanten der jeweiligen Schlüsselsektoren inklusive der betreffenden Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände sowie der Gewerkschaften. Diese Schlüsselsektoren, etwa in Deutschland der Maschinenbau und die Automobilindustrie, sind für die jeweiligen Länder von systemischer Bedeutung. Ein Merkmal von dominanten gesellschaftlichen Koalitionen ist, dass ihre Mitglieder einen legitimierenden Diskurs vorgeben, das heißt, sie sind in der Lage, ihre Interessen als mit dem nationalen Interesse übereinstimmend darzustellen.
»Schweden konnte die beiden Wachstumstreiber Konsum und Export kombinieren.«
Solche Schlüsselsektoren haben spezielle wirtschaftspolitische Anforderungen. Und diese Anforderungen werden, soweit Angehörige dieses Sektors maßgeblicher Teil einer dominanten gesellschaftlichen Koalition sind, von politischen Entscheidungsträgern, insbesondere bei der Gestaltung makroökonomischer Politik, berücksichtigt. Zu unterscheiden sind hier Sektoren, die dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt sind, und solche, die für den Binnenmarkt produzieren. Diese beiden Sektoren sind mit zwei sehr unterschiedlichen Nachfragequellen konfrontiert: im ersten Fall mit der Auslands- und im zweiten mit der Binnennachfrage. Eine weniger beachtete sektorale Unterscheidung ist die zwischen etwa dem Baugewerbe und einigen Teilen des verarbeitenden Gewerbes. Bei Ersterem führt eine höhere Inflation unter ansonsten gleichen Bedingungen zu niedrigeren Realzinsen, die die Nachfrage nach der Produktion des Sektors stimulieren. Für die Letzteren ist eine höhere Inflation hingegen nachteilig, weil sie Importe verbilligt und die Exporte verteuert. Daher ist zu erwarten, dass die sektoralen Akteure unterschiedliche Präferenzen hinsichtlich der Geld-, Steuer-, Wechselkurs- und Lohnpolitik haben, die sich auf die Inflation auswirken.
»Akteure aus der Automobilindustrie bilden in Deutschland eine starke gesellschaftliche Koalition.«
Die Parteipolitik spielt in der Politik der Wachstumsmodelle eine wichtige Rolle, da die dominante gesellschaftliche Koalition in den meisten Fällen über keine Mehrheit der Stimmen verfügt und daher eine Wahlmehrheit um jene Politik herum aufbauen muss, die ihren Interessen nützt. Die Annahme lautet somit, dass die großen Parteien in Wettstreit stehen, das gegebene Wachstumsmodell und die damit verbundene vorherrschende gesellschaftliche Koalition bestmöglich zu managen. Die wirtschaftspolitische Konkurrenz der Parteien besteht somit nicht darin, grundlegend verschiedene Systemalternativen anzubieten – zumindest dann nicht, wenn das Wachstumsmodell klar definiert ist. Es wird vielmehr erwartet, dass sich die großen Parteien auf politische Maßnahmen, die der vorherrschenden gesellschaftlichen Koalition zugutekommen, einigen. Parteien tragen in zweierlei Weise zur Stabilisierung der dominanten gesellschaftlichen Koalition bei. Zum einen gehen sie interessenbasierte Bündnisse mit gesellschaftlichen Gruppen außerhalb des Kerns der gesellschaftlichen Koalition ein. An diese wird ein Teil der Wachstumsprozesse umverteilt. Vor allem aber werden individuelle und Gruppenpräferenzen durch sie kulturell neu interpretiert.
Eine These, die im Zuge künftiger Forschung getestet werden soll, lautet, dass die wirtschaftspolitischen Präferenzen ökonomischer Akteure nicht nur von den Merkmalen des jeweiligen Sektors, sondern auch von der Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Wachstumsmodellen abhängen. So sollten sich beispielsweise die Haltungen von Repräsentanten der Bauindustrie, etwa die lohnpolitischen Präferenzen von Bauarbeitnehmern, danach unterscheiden, ob sie sich im Kontext eines exportorientierten oder eines binnenorientierten Leitdiskurses bewegen.