Vermögende Familien als Akteure im gegenwärtigen Kapitalismus
Isabell Stamm
Vor dem Hintergrund zunehmender Vermögensungleichheit treten dynastische Familien als machtvolle gesellschaftliche Akteure hervor. Das Wiedererstarken ihres Einflusses auf den Kapitalismus fordert den öffentlichen Diskurs und die Sozialwissenschaften gleichermaßen heraus, glaubte man doch, solche Familien seien ein vormodernes Relikt. Welche Rolle spielen sie heute als Akteure im gegenwärtigen Kapitalismus? Dieser Frage geht die Vermögensforschung am MPIfG um Soziologin Isabell Stamm nach.
In den letzten Jahrzehnten hat die Konzentration von Vermögen in den Händen weniger Einzelpersonen und ihrer Familien zugenommen. Wie die Sozialstrukturforschung zeigt, zählt Deutschland im internationalen Vergleich zu den Ländern mit einer hohen Vermögensungleichheit: Die oberen 10 Prozent verfügen über etwa 60 Prozent allen privaten Vermögens. Darüber hinaus ist hierzulande eine besonders starke Konzentration von Unternehmenseigentum am obersten Ende der Vermögensverteilung zu beobachten. Diese Familien haben teilweise ihre Unternehmen in erster Generation selbst aufgebaut und dann durch Schenkungen und Vererbung innerhalb der Familien weitergegeben.
Kurzum: An der Spitze der Vermögenden in Deutschland stehen jene Familien, die Eigentümer von mittleren und großen Unternehmen sind und die auch regelmäßig die vorderen Plätze auf den Reichenlisten in Wirtschaftsmedien einnehmen. Sie besitzen große Einzelhandelsketten, Konzerne innerhalb der Automobilbranche oder haben erfolgreiche Internetunternehmen aufgebaut. Über das Eigentum an Unternehmen können sie strukturellen Einfluss auf die Beschaffenheit der deutschen Wirtschaft ausüben und sind in der Lage, die strategische Ausrichtung des eigenen Geschäftsmodells, neue Technologien, Arbeitsbedingungen und Infrastruktur (mit-)zugestalten.
»Die strukturell machtvolle Position von Familien ist sozialwissenschaftlich schwer zu fassen.«
Diese machtvolle Position ist sozialwissenschaftlich schwer zu fassen: Die vorherrschende Tradition in der Gesellschaftstheorie ist der Ansicht, dass ein familiengeprägter Kapitalismus ein Relikt des Feudalismus oder der frühen Industrialisierung ist. Ein familialer Einfluss auf Unternehmen würde in Buddenbrook’scher Manier über die Zeit hinweg schwinden. Doch das ist nicht das ganze Bild: Familien gelingt es auch heute, in Zeiten von Individualisierung und Gleichbehandlung, von erstarkten Finanzmärkten und digitalen Plattformen, Vermögen aufzubauen und zu sichern. Hier setzten die Untersuchungen der Forschungsgruppe „Unternehmen, Eigentum und Familienvermögen“ am MPIfG an. Die Gruppe geht der Frage nach, wie dynastische Familien, die an der Spitze der Vermögenshierarchie stehen, ihr Vermögen aufbauen, organisieren, transferieren und legitimieren. Im Fokus steht dabei das Eigentum an Unternehmen.
Die Tradition des Treuhänderunternehmertums
Die wirtschaftshistorische Forschung hat sich intensiv mit den vermögenden Industriefamilien des „langen 19. Jahrhunderts“ beschäftigt. Die Geschichten der Familien Siemens, Thyssen oder Piëch zeichnen die Gründung und das Wachstum der Unternehmen sowie ihren dadurch ermöglichten Aufstieg nach. Hier sind ausgewählte Familienmitglieder nicht nur Anteilhaber, sondern über Generationen hinweg aktiv im Unternehmen tätig. Die Erzählungen offenbaren eine patriarchale und konfliktreiche familiale Kultur und zeigen die hohe soziale Stellung der Familie in ihrer jeweiligen Region sowie ihren gestaltenden Einfluss auf die Industrialisierung selbst, etwa durch die Versorgung mit Waren, Produktinnovationen, die Arbeitsbedingungen in den Betrieben und politische Einflussnahme.
Dabei hebt die wirtschaftshistorische Forschung eine kulturelle Besonderheit der deutschen Industriedynastien hervor. Folgt man dem Wirtschafts- und Sozialhistoriker Hartmut Berghoff, liegt diese Besonderheit in dem Selbstverständnis der Familienmitglieder begründet, Eigentümer eines Unternehmens zu sein. Die jeweils einflussreiche Generation einer Industriefamilie verstehe sich als Treuhänder ihres Unternehmens, die der Aufgabe nachkommen solle, das Unternehmen als Ganzes wohlbehalten in die nächste Generation zu tragen. Der Sozialhistoriker Jürgen Kocka führt dazu aus, dass die Familie damit eine Reihe ökonomischer Funktionen erfüllt, zu denen unter anderem die Qualifikation und Ausbildung zukünftiger Managerinnen und Manager sowie die Vermittlung unternehmerischer Motivation und Haltung zählen. Die Identität der Familie wird aus dem Unternehmen gewonnen. Sie gestaltet es aktiv und koordiniert das Verwandtschaftsnetzwerk zu dessen Wohle. Die Tradition des Treuhänderunternehmertums ist auch heute noch Bestandteil der unternehmerischen Landschaft in Deutschland, gerade Familienunternehmen und Mittelstand berufen sich teilweise hierauf.
Familie und Unternehmen: Ein vormodernes Relikt?
Aus der Perspektive soziologischer Gesellschaftstheorien erscheint die Verbindung von Familie und Unternehmen jedoch als antagonistisch. Seit den 1950er-Jahren betont dieser Forschungszweig, dass sich die Familie im Zuge der Modernisierung ihrer ökonomischen Funktionen entledigt und stattdessen auf die Sozialisation von Individuen in familialen Bezügen konzentriert. Dynastische Familien verletzen diese moderne Norm zur Individualisierung, wenn die nächste Generation das Unternehmen der Vorfahren fortführt. Ebenso steht der dynastischen Haltung die erstarkende Norm zur Gleichbehandlung aller Kinder entgegen, etwa wenn nur ausgewählte Kinder Unternehmensanteile erhalten. Vor diesem Hintergrund steht die vermögende Unternehmerfamilie unter erhöhtem Legitimierungsdruck und das Scheitern der beruflichen Nachfolge im Unternehmen wird zum Normalfall.
»Die Besonderheit der deutschen Industriedynastien liegt begründet in dem Selbstverständnis, treuhänderischer Eigentümer eines Unternehmens zu sein.«
Auch familiales Eigentum an Unternehmen wirkt aus modernisierungstheoretischer Perspektive als vormodernes Relikt, avanciert hier doch die Aktiengesellschaft zum Ausdruck moderner Governance. Die Aktiengesellschaft erlaubt es, Eigentum breit zu streuen, was den Einfluss einzelner Eigentümerfamilien am Unternehmen zugunsten des Managements reduziert. Wie Benjamin Braun, Wissenschaftler am MPIfG, zeigt, verschiebt sich der Einfluss der Managements in den letzten Jahrzehnten weiter zugunsten des Asset-Managements, das Beteiligungen an anderen Unternehmen als Geschäftsmodell nutzt. Obwohl der Soziologe Maurice Zeitlin schon in den 1970er-Jahren darauf verwiesen hat, dass Familien weiterhin eine zentrale Rolle als Eigentümer an Unternehmen spielen können, ist diese Perspektive in den Hintergrund gerückt.
Vermögende Familien als Gesellschafterfamilien
Um zu erfahren, mit welchen Institutionen, Mechanismen und Praktiken Familien an der Spitze der Vermögenshierarchie in Deutschland ihr Vermögen aufbauen und erhalten, führt die MPIfG-Forschungsgruppe in den Jahren 2022 und 2023 teilnarrative Interviews mit Mitgliedern dieser Familien. Erste Ergebnisse weisen darauf hin, dass ein aktives Engagement im operativen Geschäft des Unternehmens optional geworden ist. Diese Veränderung hat weitreichende Konsequenzen: Im Vergleich zu den von Wirtschaftshistorikern beschriebenen industriellen Familien zeigen die Interviews, dass es vermögende Familien heute nicht mehr als ihre Pflicht ansehen, mindestens ein Mitglied für das Management des Unternehmens vorzubereiten. Zwar ist eine Nähe zum Unternehmen im Sinne einer emotionalen Verbindung und eines grundlegenden Wissens über dessen Geschäfte wünschenswert, die Familienmitglieder sollen jedoch ihren Beruf oder ihre unternehmerische Tätigkeit frei wählen und nur dann ins Familienunternehmen einsteigen, wenn sie auch die entsprechenden Kompetenzen erworben haben.
Gleichzeitig kann ein starker Fokus auf die Rolle als Gesellschafter, also auf das Eigentum am Unternehmen, beobachtet werden. Vermögende Familien betrachten es als ihre Aufgabe, die Familienmitglieder auf die Rolle aktiv handelnder und mit der nötigen Kompetenz ausgestatteter Gesellschafter vorzubereiten. Dazu zählt Wissen über Gesellschaftsrecht und seine Ausdeutungen ebenso wie ein familienspezifischer Wertekanon über das Gesellschaftersein. Da dieser Status keine Position im operativen Geschäft des Unternehmens voraussetzt, wird eine ungleiche Verteilung von Anteilen zwischen Geschwistern heute zunehmend infrage gestellt und die Norm zur Gleichbehandlung der Kinder hinsichtlich des Schenkungs- und Erbrechts stärker handlungsleitend.
Über die Gesellschaftsanteile sind Familienmitglieder dauerhaft verbunden und müssen sich so mit ihren Geschwistern, Cousinen und Cousins aktiv auseinandersetzen. Dies birgt häufig ein großes Konfliktpotenzial. Vermögende Familien sehen sich daher damit konfrontiert, den Gesellschafterkreis inklusive zukünftiger Gesellschafter im Verwandtschaftsnetz zu koordinieren. Drei Elemente spielen dabei eine wichtige Rolle. Erstens regeln Gesellschafterverträge, ab wann und unter welchen Bedingungen ein Familienmitglied Gesellschaftsanteile erhalten kann. Zweitens gibt es organisierte Treffen jenseits der verpflichtenden Gesellschafterversammlung, wie etwa gemeinsame Reisen, Feiern oder Workshops, wo sich Familienmitglieder begegnen und weiterbilden sollen. Schließlich finden sich in einigen Familien teils komplexe Organisationsstrukturen des Gesellschafterkreises – die sogenannte Family Governance –, die etwa einen Gesellschafterausschuss, einen Beirat oder Kommissionen umfassen können. Bei der Koordination des Gesellschafterkreises beraten Expertinnen und Experten oder Mitglieder anderer vermögender Familien.
Verkauf, Portfolios und Treuhänderinvestoren
Eine weitere Beobachtung aus der aktuellen Forschung ist, dass der Verkauf von Unternehmensanteilen zentral für den Vermögensaufbau und -erhalt der Familien in der Vermögenselite ist. Das ist insofern überraschend, als in der Tradition des Treuhänderunternehmertums der Verkauf eines Unternehmens mit dem Versagen, für das Wachstum des Unternehmens zu sorgen, gleichzusetzen ist. Inzwischen ist der Verkauf des Unternehmens jedoch zu einer geteilten Erfahrung vieler vermögender Familien geworden.
Aus ihren Erzählungen wird deutlich, dass der Verkauf von eigenen Unternehmensanteilen in einer Situation zustande kommt, in der ein Zutrauen in die Zukunftsfähigkeit des eigenen Geschäftsmodells oder die Nachfolgeregelung fehlt und gleichzeitig eine günstige Gelegenheit besteht, sich zu einem guten Preis von Anteilen zu trennen. Der Verkauf ist ein Prozess, der meist von ausgewählten Familienmitgliedern über einen längeren Zeitraum intensiv begleitet wird. Einige der heutzutage sehr vermögenden Familien haben in den letzten Jahrzehnten ihre Unternehmensanteile zu hohen Preisen veräußern können.
»Vermögende Familien bauen heute die Kompetenz ihrer Mitglieder als aktive Gesellschafter auf.«
Durch den Verkauf wird das Familienvermögen temporär liquide und in neue Anlageformen gelenkt. Interessanterweise wird es weiterhin als Ganzes gedacht. Ausdruck dieses Ansatzes sind die sogenannten Family Offices. Hier fließt das Vermögen in eine Vermögensverwaltungsgesellschaft, an der die Familienmitglieder als Gesellschafter beteiligt sind. Die Vermögensverwaltungsgesellschaft thront wiederum über einem Komplex an Firmen und Stiftungen, in dem die verschiedenen Vermögenskomponenten portioniert verpackt sind. Auch in Familien, die nicht verkauft, sondern diversifiziert haben, finden sich solche Strukturen, durch die das Vermögen zu einem Portfolio bestehend aus verschiedenen Vermögensklassen reorganisiert wird.
In den Anlagestrategien vermögender Familien spielen direkte Beteiligungen an anderen Unternehmen eine herausragende Rolle. Auf diese Weise können sie wieder als Gesellschafter aktiv sein und Einfluss auf die strategische Entwicklung von Unternehmen ausüben. Vermögende Familien blicken vor allem auf mittelständische Unternehmen oder Unternehmen aus der Start-up-Szene, die sie in ihrem Portfolio bündeln. Gegenüber diesen Unternehmen treten sie als strategisch attraktive Investoren auf, die im Gegensatz zu kurzfristig orientierten Finanzmarktakteuren Interesse an einer langfristigen Partnerschaft haben, in die sie ihre Kompetenz als aktive Gesellschafter einbringen können.
»Der Verkauf des Unternehmens ist inzwischen zu einer geteilten Erfahrung vermögender Familien geworden.«
Insofern nehmen einige vermögende Familien als Investoren und Asset-Manager über Eigentum an Unternehmen Einfluss auf die Gestaltung der gegenwärtigen Veränderungen des Kapitalismus: Sie lenken ihr Vermögen via Direktbeteiligungen, Fonds und anderen Anlageformen in jene Märkte, Technologien und Organisationen von Arbeit, die ihnen als besonders zukunftsträchtig erscheinen. Bemerkenswerterweise suchen jene Familien, die diesen Weg gehen, für sich selbst nach neuen Bezeichnungen. Sie sind nicht mehr Unternehmerfamilien im klassischen Sinne, sondern selbst Investoren geworden. Dabei bleibt in gewissem Sinne ein treuhänderischer Anspruch bestehen, der nun aber dem Erhalt des Vermögens (und nicht mehr eines Unternehmens) gilt, das es möglichst als Ganzes und zukunftsfähig an die nächste Generation zu übertragen gilt.
Die teilnarrativen Interviews mit Mitgliedern vermögender Familien werden noch bis zum Herbst 2023 fortgesetzt. Parallel dazu führt die Forschungsgruppe Gespräche mit Expertinnen und Experten, die beratend tätig sind, und nimmt beobachtend an ausgewählten Veranstaltungen teil. Dieses Material wird für drei laufende Studien genutzt, die einen Bedeutungswandel von Unternehmenseigentum (Isabell Stamm), die Dynamiken sozialer Ordnung (Franziska Wiest) sowie den sozialen Aufstieg und lokalen Einfluss (Isabell Stamm und Georg Walther) von vermögenden Familien untersuchen.
Vermögensforschung am MPIfG
Die Forschungsgruppe „Unternehmen, Eigentum und Familienvermögen“ unter der Leitung von Isabell Stamm ist Teil des Forschungsschwerpunkts „Vermögen und soziale Ungleichheit“ am MPIfG, der von Jens Beckert im Jahr 2021 mit Mitteln aus dem Leibniz-Preis 2018 der Deutschen Forschungsgemeinschaft eingerichtet wurde. Die Projekte der Forschungsgruppe sollen zu einem tieferen Verständnis des Zusammenhangs von Unternehmen, Eigentum und Familienvermögen in einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung beitragen. Es besteht ein enger Austausch mit den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des Forschungsschwerpunkts, etwa bei den Themen Erbschaften in Deutschland (Daria Tisch), Eigentumsstrukturen großer Unternehmen (Lukas Arndt), die Rolle von Privatschulen (Karen Lillie) oder Asset-Manager-Kapitalismus (Benjamin Braun).