Der schlafende Riese in der Wirtschaft ist der Staat
Leon Wansleben - Forscherporträt
Seit Januar 2019 arbeitet der gebürtige Kölner Leon Wansleben am MPIfG als Leiter der „Forschungsgruppe Soziologie öffentlicher Finanzen und Schulden“. Nach vielfältigen und herausfordernden Stationen in Konstanz, Luzern und London möchte er nun im Rheinland Ansätze der Wirtschaftssoziologie und politischen Soziologie nutzen, um öffentliche Finanzen als wichtigen Bestandteil der Wirtschaft wieder stärker in den Blick zu rücken. Im Herbst geht die Teamarbeit los, und seine Kolleginnen und Kollegen dürfen sich auf einen ebenso engagierten wie sympathischen Forscher freuen.
Er gehört zu den Menschen, die bereit sind, sich auf Neues einzulassen – auf die Begegnung und Zusammenarbeit mit anderen Menschen, auf das Kennenlernen anderer Milieus, Lebensauffassungen und Arbeitsformen. Er gehört zu denen, die zuhören, lernen und sich und die Welt ein Stück weit verändern wollen. Die Rede ist von Leon Wansleben, 37, Soziologe am MPIfG in Köln – und die Eigenschaften, die hier charakteristisch für ihn aufgelistet stehen, sind nichts anderes als die Bewerbungsvoraussetzungen für das Freiwilligenprogramm der „Aktion Sühnezeichen Friedensdienste“ im Ausland. Dort wurden immer schon Persönlichkeiten gesucht. Und genau so eine ist Wansleben bereits mit 18 Jahren gewesen. Nach seinem Abitur 2001 in Köln leistete er einen achtzehnmonatigen Dienst für die Friedensbewegung in Amsterdam. „Ich lernte dort Kampagnenarbeit gegen Rassismus kennen und wie man internationale Kongresse organisiert“, meint er heute. Und auch seine Vorliebe, sich in herausfordernden Projekten und in Teamarbeit zu engagieren, ist ihm bis heute zu eigen. Seit Januar 2019 ist der Rheinländer am Kölner Institut Leiter der neu gegründeten „Forschungsgruppe Soziologie öffentlicher Finanzen und Schulden“.
Natürlich stand dieser Schritt nicht von Anfang an auf seinem Karriereplan. Nach seinem Abschluss Bachelor of Arts (Philosophie und Kulturwissenschaft) an der Universität Witten-Herdecke trieb ihn zunächst einmal die Faszination für komplizierte Texte, zum Beispiel Martin Heideggers „Sein und Zeit“. „Das war für mich schwere Kost und ich musste solche Texte dreimal lesen, um wirklich auch einen Zugang zu bekommen“, meint Wansleben selbstkritisch und lächelt fast befreit. Denn die Mühe hatte sich gelohnt: „Irgendwann eröffnen sich Denkweisen, die man sich ohne diesen Aufwand nie hätte erschließen können und die einen sehr bereichern.“
Diese Technik des Lesens und Verstehens sei auch für das wissenschaftliche Arbeiten und für die Rezeption soziologischer Texte entscheidend. Nur so habe er sich auch den Werken von Niklas Luhmann, einem seiner Vorbilder, sinnvoll nähern können. Der große Gesellschaftstheoretiker habe ihm unter anderem die Tür zu seiner Leidenschaft, der Soziologie, geöffnet. „Bei ihm bewundere ich weniger seine Kybernetik, die Theorie der Regelung und Steuerung dynamischer Systeme, als vielmehr die historische Tiefenschärfe und seine begriffliche Stärke“, meint Wansleben. Für Luhmann ist die Soziologie eine Wissenschaft, die sich mit menschlichem Erleben und Handeln befasst. Ihrem Wesen nach ist sie „stets aufklärende Kritik von konstituiertem Wissen – freilich Aufklärung und Kritik in einem ganz bestimmten, neuartigen Stil“, schreibt Luhmann in seiner „Politischen Soziologie“.
Dieser Stil soziologischer Aufklärung sei es, der die Eigenart soziologischer Forschung im Verhältnis zur Wirklichkeit, also auch zur politischen Wirklichkeit, und im Verhältnis zu anderen Wissenschaften auszeichne. „Genau darum ist die Soziologie für mich so faszinierend“, meint Wansleben. In den Sozialwissenschaften versuche man, mit wissenschaftlichen Mitteln dazu beizutragen, wie sich die Gesellschaft über sich selbst aufklärt. Weniger das Individuum, sondern vielmehr die Menschen als Teil der Gesellschaft, die sich ständig verändere, stünden im Fokus. Im Grunde versuche die Soziologie permanent, das Erbe der Aufklärung zu modernisieren. „Wir setzen uns unaufhörlich damit auseinander, wer wir sind und was wir tun – eben auch kollektiv. Das ist im Grunde Soziologie“, erklärt Wansleben.
»Im Grunde versucht die Soziologie permanent, das Erbe der Aufklärung zu modernisieren.«
Seinen Master of Sociology machte er an der London School of Economics and Political Science (LSE), bis er als Doktorand im Graduiertenkolleg „Zeitkulturen“ des Exzellenzclusters „Kulturelle Grundlagen von Integration“ an der Universität Konstanz angenommen wurde. Eine wichtige Mentorin wurde dort Karin Knorr-Cetina. Die wissenschaftssoziologischen Untersuchungen „Fabrikation von Erkenntnis“ und „Wissenskulturen“ der renommierten Soziologin zählen zu den modernen Klassikern der Wissenschafts- und Technikforschung. Bei Professorin Knorr-Cetina schrieb Wansleben auch seine Doktorarbeit, für die er 2012 den Dissertationspreis „Wissenschaft und Gesellschaft“ seiner Universität erhielt. Danach folgten vier Jahre als Forschungsmitarbeiter am Soziologischen Seminar an der Universität Luzern. In dieser Zeit gewann er auch das „Ambizione Stipendium“ des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung für sein Forschungsprojekt über Zentralbanken.
Dann folgte der Wechsel von der Schweiz zurück nach London: 2014 erhielt er die Stelle eines Assistenzprofessors im Department of Sociology an der LSE. Seine Forschungsschwerpunkte: Soziologie der Finanzmärkte und Finanzialisierungsprozesse sowie politische Soziologie. In dieser zweiten Londoner Zeit hatte er die Aufgabe, den Studiengang der Wirtschaftssoziologie auf internationalem Niveau zu betreuen und in punkto Forschung und Lehre zu leiten. „Ich habe dort Selbstständigkeit lernen können“, meint Wansleben. Besonders herausfordernd war es, als leitender Wissenschaftler die Rollen als Forscher, Lehrer und Manager auszubalancieren. „Die LSE ist eine sehr gute Lehranstalt. Sie ist Ziel von Studieninteressierten aus der ganzen Welt. Das heißt aber auch, dass man viel Zeit in die Lehre investieren muss.“
In Köln erhofft er sich mehr Zeit für seine Studien: „Ich möchte hier zunächst ein forschungsstarkes Team aufbauen und eine gute Zusammenarbeit entwickeln. Und dann ist es natürlich auch mein Ziel, viel systematischer, als es mir bisher möglich war, einen eigenen Standpunkt in der Wirtschaftssoziologie zu entwickeln.“ Mit Planstellen für einen Postdoc, für zwei Doktoranden und einige Hilfskräfte wird die gemeinsame Arbeit spätestens in diesem Herbst losgehen – und Wansleben kann es kaum abwarten: „Hier in Köln am Institut gibt es eine unvergleichliche Fülle an Kompetenz in der Erforschung von Wirtschaft und ihrem Nexus zur Politik. Das ist eine enorme Quelle für Inspirationen.“
Seine Forschungsgruppe „Soziologie öffentlicher Finanzen und Schulden“ wird sich in einem Themenumfeld bewegen, das in den vergangenen zehn Jahren immer mehr an Relevanz in der Soziologie gewonnen hat: Vor allem durch die Wirtschafts- und Finanzkrise ab 2007 ist das Interesse der Forscher an der wachsenden Macht von Finanzmärkten, an den moralischen Diskursen um öffentliche Verschuldung und an den politökonomischen Kräften hinter den steigenden Verschuldungsniveaus gestiegen. „Schon in der Phase vor der Wirtschafts- und Finanzkrise wurde die zentrale Rolle des Staates in der Wirtschaft kaum noch wahrgenommen“, erklärt Wansleben. „Es erschien so, als ob Märkte mehr oder weniger selbstgenügsam funktionierten und der Staat nur dann politische Steuerungsziele verwirklichen konnte, wenn er sich an Marktlogiken anpasste.“
Für Wansleben war diese Sichtweise schon vor der Krise falsch: Nicht nur hätten die Zentralbanken das Finanzsystem stabilisieren müssen, auch spielten öffentliche Ausgaben eine zentrale Rolle, um selbstverstärkende Krisen auf Produkt-, Investitions- und Arbeitsmärkten abzufangen und zu unterbrechen. Trotz der zentralen Rolle des Staates in der zeitgenössischen Ökonomie seien die politischen Handlungsmöglichkeiten jedoch tendenziell eher geschrumpft.
„Eine zentrale Frage, die hinter der Forschungsgruppe zu öffentlichen Finanzen und Schulden steht, ist, wie es zu dieser merkwürdigen Lage kommen konnte“, erklärt Wansleben. Er möchte nun die Ansätze der politischen Soziologie und der Fiskalsoziologie mit denjenigen der Finanzmarktsoziologie und der Finanzialisierungsforschung zusammenbringen. Sein Ziel ist es, viel intensiver und systematischer als bisher in der Forschung üblich, die Politik als konstituierenden Teil der Ökonomie zu betrachten. Er schließt damit auch an seine vergangenen Forschungen an: „Wirtschaftspolitische Kompetenzen sind in den letzten Jahrzehnten in wichtigen Bereichen von Finanzministerien zu Zentralbanken gewandert.“ Zentralbanken hätten zwar dadurch die Fähigkeit gewonnen, effektiv Geldpolitik zu betreiben. Doch besäßen diese geldpolitischen Behörden weder die Mittel noch das Interesse, die Wirtschaft hin zu mehr Nachhaltigkeit und Verteilungsgerechtigkeit zu verändern.
»Es geht darum, ein Bewusstsein zu schaffen, dass Schulden in kontrollierter Form Wohlstand erzeugen.«
„Die heute praktizierte Geldpolitik fördert eher die Expansion von Finanzaktivitäten gegenüber anderen wirtschaftlichen Prozessen“, meint Wansleben, „und verschärft damit langfristig die Krisenlagen, in denen sich hochentwickelte Ökonomien befinden.“ In der Wirtschaftssoziologie wurde der Fokus bisher stets auf die Märkte gelegt. Den Einfluss der Politik auf die Wirtschaft nun näher zu erforschen, sei eben nun notwendig, weil politische Institutionen wie die Zentralbanken sehr eng mit der Transformation von Ökonomie zusammenhängen. Es gelte, die Formen der Intervention zu erforschen.
Wansleben möchte nun öffentliche Finanzen wieder stärker als Ressourcen für politische Steuerung in den Vordergrund rücken, selbst wenn diese klamm erscheinen. „Natürlich geht es nicht darum, dass ein Staat sich heillos verschuldet. Es geht um das Schaffen eines Bewusstseins, dass Schulden in kontrollierter Form Wohlstand erzeugen.“ Die Fiskalpolitik und die Bereitstellung öffentlicher Güter durch den Staat seien lange vernachlässigt worden. Zu oft werde der Blick heute allein auf die finanziellen Defizite, die durch Schulden entstehen, geworfen – und zu wenig auf das, was durch Schulden aufgebaut und erreicht werden könne. „Öffentliche Schulden sind nichts Verwerfliches. Sie sind gedeckt durch die Souveränität des Staates. Sie sind nicht mit privaten Schulden gleichzusetzen“, erklärt Wansleben.
Zeit für die Forschung hat er erst einmal genug: Sein Vertrag am Institut läuft fünf Jahre, mit Option auf Verlängerung. Bis dahin wird er vielleicht auch wieder anfangen, bei seinem alten Verein „Schwarz-Weiß Köln“ im Mittelfeld Hockey zu spielen oder Songs von Pat Metheny auf seiner Gitarre einzuüben – oder in eine Art „Schreiburlaub“ zu seinem Lieblingsreiseziel in den Nordwesten Siziliens in die Nähe von San Vito Lo Capo zu fahren. Auch wird seine Leidenschaft für die Schweiz, wo er einst gearbeitet hat, so schnell nicht aufhören. Dort lebt nämlich seine Partnerin, die Literaturwissenschaftlerin in Zürich ist. Und auch nach Basel zieht es ihn immer wieder zurück – zu „einem der schönsten Museen der Welt“: der Fondation Beyeler. Ein Werk von Gerhard Richter, das dort ausgestellt war, hängt als großflächiges Poster in seinem Büro im Kölner Institut. Kunst schafft, wenn sie gut ist, einen Freiraum für die Imagination. Und genau den findet man in Gerhard Richters Bildern. Vielleicht wird auch Leon Wansleben am Kölner Institut mit seiner Dichte des Wissens diesen Freiraum und eine Atmosphäre finden, die neue Assoziationen, Gedanken und Vorstellungen herausfordert. Wir sind gespannt.