Das große Ganze ist instabil
Akos Rona-Tas - Forscherporträt
Akos Rona-Tas, Professor am Department of Sociology der University of California, San Diego, war 2018 als Scholar in Residence zu Gast am MPIfG. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören neben der Wirtschaftssoziologie und der Rational-Choice-Theorie auch die Methodologie von Statistiken und Umfragen in Verbindung mit Risiko und Unsicherheit. Heute scheinen die Bedingungen für verlässliche Vorhersagen dank großer Datenbanken und computergestützter Auswertungen besser denn je. Akos Rona-Tas warnt jedoch vor zu viel Vertrauen in die neuen Prognosetechniken.
Eine Arbeitsplatzbeschreibung. Zuerst eine Linie, von oben nach unten. Links: Science. Rechts die Humanwissenschaften. „Ich bewege mich genau auf der Grenze zwischen den beiden Königreichen. Dort passieren die interessantesten Dinge!“ Akos Rona-Tas vervollständigt die Karte. Links platziert er: Netzwerkanalyse, die Erforschung sozialer Ungleichheit, Arbeitsmarktforschung, Demografie und Ökonomie. Diese Region erhält das Etikett „quantitativ, regelbasiert, prognostizierend“. Auf der anderen Seite die historische Ethnografie und die Kulturwissenschaften: qualitativ, einzelfallorientiert, hermeneutisch. „Das sind meine Forschungsgebiete“, schließt Rona-Tas, Soziologe an der University of California, San Diego in Kalifornien und Scholar in Residence am MPIfG im Sommer 2018.
Bekannt wurde Akos Rona-Tas mit seinen Arbeiten über „Plastikgeld“: Kreditkarten. In mehreren groß angelegten Studien hat er untersucht, wie nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa Kreditkarten und, damit einhergehend, Konsumentenkredite Fuß fassen konnten. Für einen Soziologen ist das Thema deshalb interessant, weil hier wirtschaftliche und gesellschaftliche Faktoren ineinandergreifen. „Allein auf dem ‚Marktweg‘ hätte die neue Währung sich überhaupt nicht etablieren können“, meint Rona-Tas. Ein Henne-Ei-Problem: Kreditkarten sind für Konsumenten nur dann interessant, wenn sie an vielen Orten damit bezahlen können. Für Banken, auf der anderen Seite, sind Kreditkarten nur dann ein lukratives Geschäft, wenn genügend Kunden bereit sind, diese auch zu nutzen. In Ungarn, einem der untersuchten Länder, half schließlich der Staat nach: „Alle Beamten bekamen ihr Gehalt auf ihr Bankkonto überwiesen, statt bar ausgezahlt. Sie wurden somit praktisch gezwungen, die Plastikkarten zum Abheben zu verwenden.“
Ähnlich war die Situation in Bezug auf die Konsumentenkredite. Wenn Banken keine individuellen Informationen über Kreditnehmer haben, können sie nur allen die gleichen Durchschnittskonditionen anbieten. Die Folge: Solche Kreditnehmer, die für die Banken weniger Risiken bergen und die deshalb bessere Konditionen bekommen können, werden sich anderswo nach einem Kredit umschauen. Übrig bleiben die überdurchschnittlich riskanten Schuldner – was wiederum dazu führt, dass die Banken ihre Konditionen weiter verschlechtern müssen. Um diesem Teufelskreis zu entkommen, setzen Kreditgeber Instrumente wie die SCHUFA ein. In den postkommunistischen Ländern gab es die jedoch nicht. Newcomer, die über keine eigenen Kundendaten verfügten, hatten auf diesem Markt keine Chance. „Auch hier“, erklärt Rona-Tas, „musste der Staat eingreifen, indem er die großen Player unter Zugzwang setzte, ihre Daten anderen Akteuren in der Branche zugänglich zu machen.“ Sein abschließendes Fazit: „Die Straße zu bauen ist etwas anderes, als auf der Straße zu fahren.“ Einmal in Gang gebracht, funktionieren Märkte ganz gut von allein. Aber um sie in Gang zu bringen, braucht es Hilfe von außen.
»Um Märkte in Gang zu setzen, braucht es Hilfe von außen.«
Aufgewachsen ist Akos Rona-Tas in Budapest. Der Vater ein Philologe, Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Die Mutter eine Kinderärztin und Neurologin. Ursprünglich hatte Rona-Tas vorgehabt, Literaturtheoretiker zu werden. „Aber dann musste ich, noch am Anfang meines Studiums, einen Aufsatz über ein Trauerspiel aus dem 18. Jahrhundert schreiben. Untypisch für mich war ich drei Wochen vor dem Abgabetermin fertig. Ich legte die fertige Arbeit in die Schublade. Aber als ich wenig später noch mal draufschaute, mochte ich den Aufsatz nicht mehr leiden. Ich schrieb einen neuen Aufsatz, in dem ich eine gegenteilige Position bezog. Am Ende konnte ich mich nicht entscheiden, welchen der beiden Aufsätze ich einreichen sollte. Ich reichte beide ein – und bekam für beide ein 'A'. Das war der Zeitpunkt, als ich beschloss, die Literaturtheorie fallen zu lassen und auf mein zweites Studienfach, die Soziologie, umzusatteln.“
1981, mit zweiundzwanzig Jahren, ging Rona-Tas an die Universität in Ann Arbor in Michigan. Ein Verwandter, der ungarische Verhaltensökonom George Katona, hatte dies ermöglicht. „Der Grund dafür war vor allem mein kompliziertes Liebesleben“, holt Rona-Tas aus. Ich kenne meine heutige Frau bereits seit wir beide zehn Jahre alt waren. Damals hatten ihre Eltern Ungarn in Richtung Schweden verlassen – das galt als kriminelles Delikt. Nach etlichen Jahren Fernbeziehung hatten wir uns dann in Michigan verabredet, wo ich Soziologie studieren wollte und sie erst Psychologie und dann Kunst studierte.“ 1984 hat das Paar dann geheiratet; einen Sohn haben die beiden.
In den USA war es wieder eine Hausarbeit, die eine Wende in Rona-Tas’ akademischer Biografie herbeiführte. Das Thema: Hobbes und Mandevilles Theorien über soziale Revolutionen. „Mein Professor gab mir für meine Arbeit ein 'A', aber er bestellte mich zu sich in die Sprechstunde und hielt mir eine StandStandpauke. Ich sollte lieber von der politischen Philosophie die Finger lassen und mich auf das konzentrieren, was die Soziologen als ihr Metier betrachteten. Ich folgte dem Rat, hielt mich fortan an die klassische Soziologie und lernte Statistik.“ Seine Dissertation schrieb Rona-Tas über die Anfänge der ungarischen Privatwirtschaft unter dem Kommunismus. Noch vor Ende der Promotion arbeitete er ab 1989 als Assistant Professor an der University of California, San Diego, wo er seitdem lehrt.
Der Soziologe und Nationalökonom Max Weber, der ungarisch-österreichische Wirtschaftswissenschaftler Karl Polanyi, der Erfinder der Economic Sociology Marc Granovetter, der schottische Soziologe Donald MacKenzie und der Kölner Wirtschaftssoziologe Jens Beckert – dies, sagt Rona-Tas, seien die Sozialwissenschaftler, die für seine eigene Arbeit die größte Rolle spielten. Hinzu kommen Herbert Simon, George Katona und Daniel Kahnemann aus der Verhaltensökonomie; aus der Wissenschaftsgeschichte Lorraine Daston, Ian Hacking und Jimena Canales sowie das ungleiche Philosophen-Paar Henri Bergson und Karl Popper.
Was die fachliche Ausrichtung von Akos Rona-Tas mindestens ebenso kennzeichnet wie seine Forschungsgebiete und Lieblingsautorinnen und -autoren ist das klare Bekenntnis zur Public Sociology. „In den USA“, holt Rona-Tas weiter aus, „hat sich die Soziologie in den 1930er- und 1940er-Jahren als die für die Durchführung von Meinungsumfragen zuständige Instanz etablieren können. Mit dem Rückzug des Wohlfahrtsstaates und dem Neoliberalismus hat dann die Soziologie ihre Position in der Politikberatung an die Wirtschaftswissenschaften abtreten müssen. Heute erlebt sie ein Comeback, weil Probleme, die lange Zeit als gelöst galten, auf einmal wieder auftauchen. Soziale Mobilität, Chancengleichheit, Rassendiskriminierung: Das alles steht heute wieder auf der Agenda.“
»Heute erlebt die Soziologie ein Comeback, weil Probleme, die lange Zeit als gelöst galten, auf einmal wieder auftauchen.«
Innerhalb der American Sociological Association (ASA), der amerikanischen Gesellschaft zur Förderung der Soziologie, engagiert sich Rona-Tas beim Sociology Action Network (SAN). „Heute kann man selbst durch ein Sprachrohr wie die New York Times nicht mehr die Öffentlichkeit erreichen“, erklärt Rona-Tas. „Dazu sind unsere Medien einfach zu fragmentiert. Mit dem Sociology Action Network adressieren wir deshalb soziale Akteure direkt. Wir bauen momentan sozusagen eine Dating-Plattform, auf der Mitglieder von sozialen Bewegungen und lokalen Initiativen, die Beratung durch Soziologinnen und Soziologen suchen, an die entsprechenden Experten vermittelt werden.“ Gleichzeitig bietet das Netzwerk Training für Soziologen, damit diese ihre eigenen Fähigkeiten, mit Menschen außerhalb der Disziplin zu kommunizieren, trainieren und ausbauen können. Neben Problemen der sozialen Ungleichheit, so Rona-Tas, sind es vor allem die Bereiche Künstliche Intelligenz und Algorithmen, die Netzwerkanalyse und die politische Bildung, in denen soziologische Gesellschaftsberatung heute besonders notwendig ist.
Während seines Aufenthalts als Scholar in Residence am MPIfG in Köln hat Akos Rona-Tas vor allem an einem Buch zum Thema Prognosen gearbeitet und an einem Aufsatz über Big Data im Kontext von Konsumentenkrediten. Beide Themen waren auch Gegenstand einer kurzen Reihe von Vorträgen, die Rona-Tas im Juni am Institut hielt. „Es ist paradox: Auf der einen Seite haben wir Zugriff auf immer mehr Daten und auf immer bessere digitale Werkzeuge, um diese zu analysieren“, erklärt Rona-Tas. „Auf der anderen Seite aber erleben wir, dass Prognosen immer wieder dramatisch danebenliegen. Zum Beispiel bei der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten: Dass die meisten Meinungsforscher Trumps Wahlsieg bis zum Schluss für unmöglich gehalten hatten, war eine arge Schlappe für die gesamte Branche.“
Seine Erklärung: „Lokale Ereignisse oder Teilsysteme können wir tatsächlich in der Tendenz immer besser prognostizieren. Aber im globalen Maßstab versagen die Modelle. Wir haben das in der Finanzkrise erlebt. Die einzelnen Segmente des Finanzsystems lassen sich gut kontrollieren. Kleinere Fehler haben hier oft keine gravierenden Auswirkungen. Aber im Zusammenspiel der einzelnen Segmente, auf der systemischen Ebene, entsteht dennoch Instabilität. Wie bei einem Auto, das man auf einer Straße, die schnurstracks durch eine Ebene läuft, mit einer Fahrautomatik immer geradeaus fahren. Irgendwann landet das Auto dennoch im Graben!“
»Im globalen Maßstab versagen die Prognosen.«
Was Rona-Tas noch mehr bewegt als die Genauigkeit und die Grenzen von Prognosen, ist deren gesellschaftliche Einbettung. Rona-Tas: „Ich halte es für eine offene Frage, wie weit wir akzeptieren sollten, dass Prognosen als selbsterfüllende Prophezeiungen unsere Zukunft auf eine Weise bestimmen, wie dies sich gegenwärtig abzeichnet. Ein Beispiel: Die SCHUFA ist eine etablierte Praxis. Aber möchten wir auch so etwas haben wie beim ‚Sesame Credit‘ in China, bei dem nicht nur persönliche Finanzdaten, sondern auch das individuelle Konsumverhalten oder Tätigkeiten in sozialen Medien dazu herangezogen werden, um die Vertrauenswürdigkeit von Bürgern nach einem Punktesystem zu beurteilen? Will man, dass auch staatliche Behörden diese Daten nutzen? Ich glaube nicht! Nicht nur aus Gründen des Datenschutzes oder der drohenden Diskriminierung, sondern auch, weil wir damit die grundsätzliche Offenheit der Zukunft verspielen.“