Ein Mann stellt sich gegen das Imperium
Wolfgang Streeck - Forscherporträt
Der Homo oeconomicus ist "Quatsch", der Kapitalismus "am Ende" – und überhaupt: Lösungen verstellen den Blick auf die Wirklichkeit. Für viele ist der Sozialforscher ein nerviger Schwarzseher. Aber er ist einer, dem man zuhören sollte, wenn man verstehen will, wohin sich die Gesellschaftsökonomie entwickelt.
Er kann seine Verwunderung nicht verbergen; die Verwunderung über die Dreistigkeit der Wirtschaftswissenschaften, ein scheinbar einfaches Modell als Grundlage für so viele ihrer komplexen Theorien zu machen. Wolfgang Streeck schenkt sich ein Glas Wasser ein, nimmt einen Schluck, dann hat er genug Anlauf genommen. "Verwenden Sie dieses Wort überhaupt nicht. Das ist alles Quatsch", sagt der Professor für Soziologie. Das, was der 68-Jährige so verächtlich beschreibt, ist der Homo oeconomicus – das Modell vom Menschen als rationaler Entscheider, der immer den für ihn günstigsten Weg wählt. Das Fundament des modernen Kapitalismus, auf dem alles andere aufbaut – selbst die Lösung der Euro-Krise. Angeblich.
Streeck hat an diesem Mittag nach Köln geladen, zu einem Italiener unweit des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, dem er bis Anfang November als Direktor vorstand. Er liebt Italien, besonders Apulien, immer wieder bereist er den "Absatz des italienischen Stiefels" – auch um zu sehen, wie es einmal in ganz Europa aussehen könnte. Aber dazu später. Zuerst will der Professor über den "Imperialismus der Ökonomie" sprechen, den er so bewundernd-verachtet. Und über seine Gegenstrategie.
Streeck ist, keine Frage, unbequem. Wie er immer wieder wider das System wettert, macht ihn für manche nervig. Viele seiner pessimistischen Prognosen scheinen unbegründet. Einerseits. Andererseits hat Streeck im Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung über viele Jahre den wichtigsten intellektuellen Thinktank für die Analyse unserer Gesellschaft geleitet; ist einer von maximal einer Handvoll deutscher Geisteswissenschaftler internationalen Formats - schon allein deswegen lohnt es sich, ihm zuzuhören, auch wenn man nicht immer zustimmen muss.
Da ist also das Modell vom Homo oeconomicus. Eines unter vielen, um das Handeln des Menschen zu beschreiben. "Doch die Wirtschaftswissenschaften haben es universalisiert. Sie haben ein Homo-oeconomicus-Imperium geschaffen", schimpft Streeck. Dabei treffe das Modell doch nur in ganz wenigen Situationen zu, es blende die Umwelt des Menschen aus und die Gesellschaft, in der die Menschen lebten. Es funktioniere nicht.
"Nehmen Sie nur den Ersten Weltkrieg", sagt er. Fünf Millionen deutsche Männer seien da gefallen. Warum? Weil sie ihren individuellen Nutzen suchten? Wohl kaum. "Ökonomisch nicht erklärbar", erklärt Streeck. Oder die Diskussion um die Leihmutterschaft. "Vielleicht ist es für die Menschen in Zukunft ökonomisch sinnvoll, ihre Babys zu verkaufen. Aber es ist gesellschaftlich bei uns nicht akzeptiert. Diesen Kontext blendet das Homo-oeconomicus-Modell aus."
»Die Ökonomie hat das Modell des Homo oeconomicus aus seinem Kontext gerissen, verallgemeinert und so entgrenzt.«
Er hat sich nun in Rage geredet, kommt kaum dazu, seine Fussili zu essen. Es geht ihm um das große Ganze. Der Punkt sei der: Die Ökonomie habe das Modell des Homo oeconomicus aus seinem Kontext gerissen, verallgemeinert und so entgrenzt. So sei das auch mit dem gesamten neoliberalen Kapitalismus. Das System sei nicht mehr "eingebettet" in Gesellschaft und Politik, durch die neoliberalen Reformen der vergangenen Jahrzehnte völlig befreit von allen Regeln - und nun dem Ende nahe. "Die Zeichen an der Wand sind deutlich", sagt Streeck, "wir haben eine Krisen-Kumulation."
Deshalb hat es sich der Soziologe zur Lebensaufgabe gemacht, den Gegen-Imperialismus zu begründen. Geboren 1946 in Lengerich wurde er zum ersten Akademiker der Familie. Mit 16 trat er in die SPD ein und erst Jahrzehnte später wieder aus, als Thilo Sarrazin zu sehr hofiert wurde. Er ging 1972 aus dem Siegerland nach Frankfurt am Main, studierte Soziologie und hörte Theodor W. Adorno, einen der Hauptvertreter der Kritischen Theorie. Nach dem Diplom zog es ihn nach New York, als einer der ersten deutschen Forscher. Zwei Jahre später kehrte er zurück, promovierte, habilitierte schließlich, um 1988 einem Ruf an die University of Wisconsin in Madison in den Vereinigten Staaten zu folgen, wo er Professor für Soziologie und industrielle Beziehungen wurde.
Auf die Erfahrungen in dieser Zeit gründet sich sein tiefes Verständnis für die amerikanische Gesellschaft, für die wachsende Spaltung zwischen Arm und Reich - und für die Verachtung des entfesselten Kapitalismus. Streeck liebt die Vereinigten Staaten noch heute: "Dort passiert alles Wichtige und Spannende", gleichzeitig machen die USA dem Wissenschaftler Angst. Weil er das, was er dort jenseits der wirtschaftlichen Zentren sieht, inzwischen auch in Europa findet: Trailerparks, verarmte Dörfer, Familien, die drei Minijobs brauchen, um zu überleben. Es sind Geschichten von Verlierern, an den Rand der Gesellschaft gedrängt, dem zügellosen Kapitalismus schutzlos ausgeliefert. So etwas, glaubt Streeck, droht auch Europa. Und nur das (sic!) die Deutschen gerade "auf einer Insel der Seligen" lebten, bedeute nicht, dass die nächste Krise nicht komme. "Sie kommt. Die Frage ist nur, wann", sagt er.
»Die nächste Krise kommt. Die Frage ist nur, wann.«
Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung hat Streeck deshalb kürzlich als einen tiefenttäuschten Pessimisten beschrieben, der aus seinem Kölner Max-Planck-Institut, dessen Leitung er 1995 übernahm, ein "Herz der Finsternis" gemacht habe. Und tatsächlich liest sich sein Bestseller "Gekaufte Zeit" wie das Krisen-Weltbild eines Forschers, für den es keine Hoffnung mehr gibt. Es sind die gesammelten Niederschriften seiner im Jahr 2012 gehaltenen Adorno-Vorlesungen an der Frankfurter Uni. Einer Reihe, bei der schon allerhand namhafte Ökonomen auftraten.
Und schon im Vorwort macht Streeck eine Sache klar: Wenn es Gemeinsamkeiten zwischen ihm und Adorno gebe, dann vielleicht, "dass ich es intuitiv ablehne zu glauben, dass Krisen immer gut ausgehen müssen." Und weiter: "Mir erscheinen soziale Ordnungen als normalerweise fragil und prekär, und unangenehme Überraschungen als jederzeit möglich." Was folgt ist die Beschreibung der gegenwärtigen "Finanz-, Fiskal- und Wirtschaftskrise" als "Moment der langen neoliberalen Transformation des Nachkriegskapitalismus".
Wer allerdings nach 256 Seiten eine Lösung für die Welt erwartet, eine Handlungsanweisung, was nun zu tun ist, hofft vergebens. "Ich glaube, dass die Ökonomen die herumlaufen und Lösungen anbieten - wie Hans-Werner Sinn zum Beispiel - , sich benehmen, als würden sie eine Maschine bedienen, wo man eine Stellschraube ändert und dann ist das Problem gelöst", sagt er. Es ist für ihn die logische Folge aus dem Imperialismus des Homo oeconomicus: Wer die Welt durchgängig mit einem technischen Modell beschreibt, das universell gilt, der glaubt auch, dass sich die Krisen dieses Systems nur mit technischen Korrekturen lösen lassen.
Damit, sagt Streeck, führe man die Menschen in die Irre. Man versuche sie glauben zu machen, dass alles nicht so schlimm ist. Dass sie nur weiter fleißig konsumieren müssen, um alles am Laufen zu halten. Dass es Licht am Ende des Tunnels gibt, dass Europa gerettet wird. "Wenn man ständig mit Lösungen rumrennt, dann erkennen die Menschen die Dringlichkeit des Problems nicht. Dann denken sie: Wenn der Streeck eine Lösung hat, kann es so schlimm ja nicht sein", sagt er.
Als sein Kollege Jürgen Habermas dagegenhielt und darauf pochte, dass die Märkte eines Tages wieder kontrolliert würden, diesmal transnational, dass alles wieder eingehegt würde, bezeichnete Streeck ihn als "Traumtänzer". Da war er wieder, der "tiefenttäuschte Pessimist". Dabei will Streeck das gar nicht sein. So viel Gefühl will er nicht zeigen. Diese "Psychoanalyse", sei falsch.
Im Gespräch gibt sich Streeck, trocken, protestantisch, fleißig, strebsam – aber auch emotionslos, irgendwie maschinell. Obwohl er genau das den Wirtschafts-Imperialisten vorwirft. Nachdem er bei dem Italiener seine Nudeln verspeist hat, sagt er: "Wir müssen zu einer Nüchternheit kommen, zu einer realistischeren Betrachtung der Welt."
»Wir müssen zu einer Nüchternheit kommen, zu einer realistischeren Betrachtung der Welt.«
Bei Streeck hört sich diese Betrachtung ungefähr so an: "Der Kapitalismus ist eine geschichtliche Formation. Er ist Anfang des 19. Jahrhunderts entstanden, und er wird auch wieder verschwinden." So weit, so pessimistisch. Doch damit geht es für den Professor erst los. Wenn man das nämlich einmal akzeptiert habe, könne man die Bürger darauf vorbereiten, sie zu mündigen Betrachtern der Wirklichkeit machen. "Wir müssen die Bürger in die Lage versetzen, eine aufgeklärtere Diskussion zu führen, damit die, die sonst über den Tisch gezogen werden, nicht ganz so arg über den Tisch gezogen werden." Darin sieht Streeck seine Aufgabe – und auf diesem Feld ist er weitaus optimistischer.
Da ist etwa die Society for the Advancement of the Socioeconomic Science, bei der er vor 30 Jahren Mitbegründer war. Damals kamen zu ihren Jahrestreffen 30 Mitglieder, beim vergangenen Meeting an der London School of Economics seien allerdings über tausend Soziologen angereist. Für Streeck ein klarer Beweis dafür, dass es nach und nach gelingen wird, die Disziplingrenzen zu überwinden, Ökonomie, Soziologie und Politikwissenschaft wieder zusammenzuführen, so wie es bei den Ökonomen Joseph Schumpeter und Max Weber noch war. Nur so, glaubt der Professor, ließen sich die richtigen Antworten auf die Krisen der Gegenwart finden.
Natürlich hat er auch sein Institut, gibt eine wichtige Fachzeitschrift heraus, betreut Doktoranden - und hält Vorlesungen. "Natürlich sprechen wir als Akademiker eher zur Akademie", sagt er. Doch inzwischen gebe es sogar erste Kontakte zum Bürger. "Gekaufte Zeit" etwa erhielt im vergangenen Jahr durchweg positive Kritiken, wurde auf der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet und so zum Bestseller. Und dann gebe es ja auch noch die Gewerkschaften, die zwar an Einfluss verlören, als Sprachrohr zu den Massen aber immer noch taugten. "Wenn man eine Wissenschaft macht wie ich sie mache und dann nur zu den Zentralbankiers spricht, dann macht man was falsch. Man muss zu den Gefährdeten sprechen, zu den Gewerkschaften", sagt Streeck.
Am Ende hat Streeck seinen Espresso geleert und ringt sich nach ein paar kleineren Witzen über den Imperialismus der Wirtschaftswissenschaften noch zu einem Fazit durch: Wie läuft denn sein Versuch nun, sein Gegen-Imperialismus? Sein Kampf gegen den allgegenwärtigen Homo oeconomicus? "Also wenn ich all das sehe, bin ich sehr optimistisch." Na also.
Zitate des Denkers
»Es scheint einen Imperativ zu geben: Die Forderungen des Finanzsektors an die Staaten müssen absoluten Vorrang haben vor den Forderungen der Bürger an die Staaten.«
»Der demokratische Kapitalismus ist in Gefahr, wenn die Staaten als Inkassoagenturen im Auftrag einer globalen Oligarchie von Investoren agieren.«
»Die Hoffnung, dass man durch Reformen innerhalb des Systems viel bewirken könnte, war vielleicht etwas übertrieben.«
»Möglich, dass der finanzielle Kraftakt, den wir derzeit beobachten, der letzte ist, zu dem das westliche Staatensystem in der Lage ist. Danach wäre der Kapitalismus sich selbst überlassen.«
Wolfgang Streeck
Werdegang: Geboren 1946 in Lengerich, studierte Streeck bis 1972 in Frankfurt und New York Soziologie. Er schloss mit dem Diplom ab, graduierte in den USA und kam 1974 zurück in die Bundesrepublik. 1980 folgte die Promotion, sechs Jahre später die Habilitation. Zwei Jahre hielt es ihn in Europa, dann ging er als Professor nach Wisconsin, USA. 1995 kehrte Streeck zurück als Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln.
Lebensleistung: Geprägt vor allem durch seine Zeit in Amerika, ist Streeck wohl der wichtigste deutsche Vordenker an der Schnittstelle zwischen Ökonomie und Soziologie. Seine "Adorno-Vorlesungen" machten ihn berühmt - für sein daraus resultierendes Buch "Gekaufte Zeit", in dem er die Krise des demokratischen Kapitalismus skizziert, wurde Streeck mehrfach geehrt.