Globale Gerechtigkeit muss man erkämpfen – wenn’s sein muss, durch Strafen
Tim Bartley - Forscherporträt
Konzerne verstoßen regelmäßig gegen Arbeits- und Menschenrechte – und zwar weltweit. Das hat den US-amerikanischen Soziologen Tim Bartley schon als Studenten auf die Palme gebracht. Heute ist die Regulierung der globalen Wirtschaft mit Blick auf Nachhaltigkeit und faire Arbeitsbedingungen sein Forschungsschwerpunkt. Als Scholar in Residence am MPIfG in Köln trifft er nicht nur besonders motivierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, sondern ist auch am Austausch mit den Kölner Forschern zum Thema "illegale Märkte" interessiert.
Jeden Tag sterben nach einer Schätzung der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) im Durchschnitt 6.400 Menschen auf der Welt durch einen Unfall am Arbeitsplatz oder an einer berufsbedingten Krankheit. Damit kommen bei der Arbeit mehr Menschen um als durch Krieg und Terroranschläge. Weltweit profitieren Konzerne von der Ausbeutung der Arbeiter in Textilfabriken in Asien, in Kohlegruben in Afrika oder beim Bau fragwürdiger Staudammprojekte in Lateinamerika. Selbst in Europa gibt es beunruhigende Tendenzen: Werkverträge, Arbeit auf Abruf und digitale Tagelöhner zeigen, dass Arbeit auch in Deutschland immer weniger Wert ist. Und im globalen Arbeitsmarkt konkurrieren immer mehr Menschen um immer weniger gut bezahlte Jobs. "Trotz Finanzkrise und internationalem Terrorismus – die globale Gerechtigkeit ist das Thema, das in den nächsten Jahrzehnten dominieren und noch größere Sorgen bereiten wird", ist Tim Bartley überzeugt. "Wir müssen uns darum kümmern – und zwar mit ganz konkreten Lösungsvorschlägen."
Der 43-jährige US-Amerikaner ist Professor für Soziologie an der Ohio State University Columbus und noch bis August Scholar in Residence am MPIfG in Köln – und damit er nichts vermissen muss, hat er auch seine Frau und seinen elf Monate alten Sohn mit nach Deutschland gebracht. Gerade in seinen Vorlesungen vor den Wissenschaftlern in der Rheinmetropole ist zu spüren, wie er sich für sein Thema begeistert. Begriffe wie "globale Gerechtigkeit", "Umweltstandards" oder "faire Arbeitsbedingungen" gehören zu den Schlagworten, die ihm wichtig sind und ihn antreiben. Doch vom Typus etwa eines farbbeutelschmeißenden Protestlers gegen die Weltverschwörung ist er weit entfernt. Wie angenehm. Der Mann mit den blauen Augen ist höflich, freundlich, er lächelt gerne und hat vor allem eine Eigenschaft, die im oftmaligen Durcheinandergeschrei vieler Expertenmeinungen ebenso selten wie produktiv ist: Ob im Kreise seiner Studierenden oder im Austausch mit Kollegen: Bartley gehört nicht zu den Leuten, die auf jede Frage sofort eine Antwort geben wollen. Er nimmt sich lieber Zeit zum Überlegen und antwortet erst, wenn er über das aufgeworfene Problem nachgedacht hat.
»Bei der Arbeit kommen weltweit mehr Menschen um als durch Krieg und Terroranschläge.«
In Texas in einem kleinen Ort namens Kingsville kam er als Sohn einer Musikerin und eines Managementtrainers zur Welt. Allerdings wuchs er in Illinois auf, zwei Fahrtstunden von Chicago entfernt, nahe Peoria am Illinois River – ein durchaus besonderer Ort. Er ist durch seine in den Staaten bekannte Redewendung "Will it play in Peoria?" (sinngemäß: "Wird es in Peoria ankommen?") bekannt geworden. Denn egal ob es sich um einen Politiker, ein Produkt oder ein gesellschaftliches Phänomen handelt – wer oder was in Peoria erfolgreich angenommen wird, ist typisch für den Geschmack der US-amerikanischen Mehrheitsbevölkerung.
Gar nicht Mainstream, sondern eher besonders war Tim Bartley. Schon früh wusste er, was er wollte. "Der Sinn für soziale Gerechtigkeit war immer in meinem Kopf", sagt er. Schon in seinen ersten Semestern in den späten Neunzigern an der University of Arizona beteiligte er sich an vielen Protesten gegen die Produktionsmethoden global agierender Unternehmen, insbesondere der Textilindustrie. "Wir haben damals sehr viel über die globalen Zusammenhänge in der Arbeitswelt nachgedacht", meint Bartley. Doch Berufsaktivist wollte er auf keinen Fall werden – "dafür bin ich nicht der Typ" –, sondern er wollte sein größtes Interesse, die globalen Arbeits- und Umweltstandards, zu seinem Forschungsprojekt machen.
So wählt er die akademische Laufbahn. Nach seinem Ph.D. wurde er Juniorprofessor für Soziologie an der Indiana University. In den folgenden neun Jahren war er unter anderem Visiting Fellow am Niehaus Center for Globalization and Governance in Princeton und forschte als Visiting Scholar an der Sun Yat-Sen University in Guangzhou in China, am Massachusetts Institute of Technology und am MPIfG in Köln. Schon damals hat er das Institut am Rhein als ein besonders produktives Wissenschaftslabor kennen und schätzen gelernt und freut sich jetzt auf den Austausch zum Thema "Illegale Märkte", einem der aktuellen Forschungsschwerpunkte der Kölner. Vor allem aber die Arbeit mit Nachwuchswissenschaftlern hat ihm immer schon Spaß gemacht. "Man lernt viel von den jungen Leuten. Ich mag es einfach, zu lehren – vielleicht viel mehr als ich sollte", bekennt er und lächelt etwas verlegen.
»Von den jungen Leuten kann man viel lernen.«
Seit Beginn seiner akademischen Laufbahn veröffentlicht er regelmäßig in wissenschaftlichen Magazinen – im American Journal of Sociology, dem Annual Review of Law & Social Science oder in Research in the Sociology of Organizations. Er gewann verschiedene Ausschreibungen und Ehrungen, darunter den Trustees Teaching Award der Indiana University oder den Braverman Award. 2015 veröffentlichte er zusammen mit dem deutschen Sozialwissenschaftler Sebastian Koos das Buch Looking Behind the Label: Global Industries and the Conscientious Consumer (Indiana University Press). Demnächst erscheint darüber hinaus sein Werk Rules without Rights: Land, Labor, and Private Authority in the Global Economy (Oxford University Press). Seit 2012 ist Bartley Professor für Soziologie an der Ohio State University Columbus.
"In der gesamten Arbeitswelt werden heute regelmäßig Menschenrechte missachtet", erklärt Bartley. Ob es sich um das Recht auf körperliche Unversehrtheit oder gleichen Lohn für gleiche Arbeit handelt – die Menschenrechtsverletzungen in der global verzweigten Wirtschaft seien groß, sagt er. Ein Desaster, denn die Weltgemeinschaft hatte sich schon vor vielen Jahren auf eine ganz andere Entwicklung verständigt: Als 1944 die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) die Erklärung von Philadelphia verabschiedete, waren sich alle beteiligten Arbeitnehmervertreter, Unternehmer, Minister und Präsidenten einig: "Arbeit ist keine Ware." Soziale Gerechtigkeit sollte ein Eckpfeiler der internationalen Rechtsordnung sein. Arbeit hatte fortan nicht nur die Auflage, den Menschen die Grundlage für eine würdevolle Existenz zu bieten, sondern sollte auch den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft garantieren. Heute ist dieser Konsens verloren gegangen. "Arbeit gilt heute meistens als Kostenfaktor, der möglichst gering gehalten werden soll, damit Unternehmen ihre Wettbewerbsfähigkeit sichern und möglichst hohe Gewinne einfahren können", meint Bartley. Statt um soziale Gerechtigkeit ginge es heute einzig um den Austausch von Waren und Dienstleistungen. "Es sind vor allem die großen Konzerne in bestimmten Bereichen, die Art und Weise unserer Arbeitswelt und Produktion prägen."
» ›Arbeit ist keine Ware.‹ Dieser Konsens ist verloren gegangen.«
Um die Problematik besser zu erforschen und um zu prüfen, was tatsächlich falsch läuft, ist Bartley bereits mehrere Male nach Asien gereist – unter anderem verbrachte er drei Monate in China und einige Monate in Indonesien. "Die Situation dort war oft bedrückend. Ich habe mit vielen Menschen Interviews geführt – auch mit Compliance-Managern westlicher Unternehmen", erzählt er. Die Gespräche seien immer sehr offen gewesen. Auch deswegen sei er zu der Erkenntnis gelangt, dass Corporate-Social-Responsibilty-Projekte nur sehr wenig bringen.
Gewerkschaften oder Arbeitnehmervertreter – soweit es sie überhaupt gibt – verlören zunehmend an Einfluss. Das liege auch daran, dass es immer weniger Menschen für notwendig erachteten, sich für ihre Arbeitnehmerrechte zu engagieren. Aber auch die Staaten selbst seien an dieser Fehlentwicklung beteiligt. Sie ermöglichten, dass sich das Kräfteverhältnis zugunsten der Konzerne verschieben konnte und diese heute immer stärker würden. Regierungen hätten vielerorts die Arbeitsverhältnisse entrechtlicht oder die Wirtschaft grenzenlos liberalisiert. Die Gewährleistung elementarer Arbeits- und Menschenrechte sei insgesamt erschreckend unverbindlich. "Letztlich sind natürlich die Konzerne für ihr Handeln verantwortlich. Doch sie handeln weiter gerne unverantwortlich, wenn der Staat sie lässt", sagt Bartley.
»Immer weniger Menschen erachten es für notwendig, sich für ihre Arbeitnehmerrechte zu engagieren.«
Sein Lösungsvorschlag: "Man muss bestehende Gesetze konsequenter anwenden und die Unternehmen härter bestrafen." Und zwar da, wo es sie auch schmerzt – beim Thema Geld. So sollten Unternehmen stärker als bisher dazu angehalten werden, auf die Einhaltung sozialer und ökologischer Kriterien zu achten oder aber ihr Engagement hinsichtlich Nachhaltigkeit "geratet" und ihr Wert entsprechend eingestuft werden. "Bei den bisherigen grünen Indizes liegt der Fokus noch nicht richtig", meint Bartley, "zurzeit werden eher die falschen, oder besser gesagt, die noch nicht wirklich fairen Kriterien belohnt. Das bringt keine echte Verbesserung." Bartley appelliert auch an die Eigenverantwortung der Unternehmen. Eine Möglichkeit wäre, sich beispielsweise zu einer wirklich fairen Logistikkette selbst zu verpflichten. Ein Beispiel: der Holzlieferant, der sich in einem Land illegal Holz beschafft hat. "Unternehmen, die dieses Holz weiterverwerten, sollten in jedem Land, in dem sie dieses Holz verkaufen, bestraft werden."
Doch selbst wenn möglicherweise strengere Kriterien aufgesetzt werden – wer soll die Unternehmen auf ökologische und soziale Standards punktgenau hin kontrollieren? Bartley setzt auf die nichtstaatlichen Organisationen. Für ihn spielen sie mittlerweile eine maßgebliche Rolle bei der Aufklärung von Missständen in der Arbeitswelt – zum Beispiel durch den Kampf für existenzsichernde Mindestlöhne oder gegen unfaire Handelsabkommen sowie mit Klagen gegen Konzerne.
Effektiv werden die Maßnahmen erst dann sein, wenn alle Beteiligten gemeinsam handeln. Und das lohnt sich, sagt Bartley, denn es müsse doch allen klar sein, dass "akzeptable Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards, ob in Entwicklungsländern, in den USA oder in Europa, allen Menschen nutzen und auch den wirtschaftlichen Wohlstand insgesamt erhöhen."