Die Zukunft als kollektive Herausforderung
Jenny Andersson - Forscherinnenporträt
Jenny Andersson ist seit 2015 Kodirektorin am Max Planck Sciences Po Center on Coping with Instability in Market Societies (MaxPo) in Paris. Die Wirtschaftshistorikerin aus Schweden ist CNRS-Professorin am Centre d’études européennes (CEE) und Leiterin von FUTUREPOL, einem vom European Research Council geförderten Projekt zur transnationalen Geschichte der Zukunftsforschung und zur Ideengeschichte von Zukunftsforschung in der Nachkriegsära. Am MaxPo forscht Andersson zur Rolle der Zukunft im wirtschaftlichen Handeln und leitet eine interdisziplinäre Forschungsgruppe, welche die Bedingungen politischen Handelns in der Zeit nach der Krise untersucht. Jenny Andersson promovierte an der Universität Uppsala und habilitierte sich 2010 an der Sciences Po in Politikwissenschaft und Geschichte. Sie war Assistenzprofessorin am Institute for Future Studies in Stockholm, wissenschaftliche Mitarbeiterin am European University Institute in Florenz und Gastwissenschaftlerin am Center for European Studies der Harvard University.
Die Sozialdemokratie liegt Jenny Andersson am Herzen. Zwei Bücher hat sie deren Geschichte und Metamorphosen gewidmet: In ihrer Dissertation spürt sie dem Wandel des "schwedischen Modells" in der Nachkriegszeit nach, das Buch erschien 2006 unter dem Titel Between Growth and Security: Swedish Social Democracy from a Strong Society to a Third Way. Drei Jahre später folgte The Library and the Workshop, es handelt vom Verhältnis von Sozialdemokratie und Kapitalismus in der Wissensgesellschaft. Beide Bücher haben ihr viel Lob und Anerkennung eingebracht, von Fachkollegen wie von politischer Seite.
Seit gut einem Jahr leitet die gebürtige Schwedin das Max Planck Sciences Po Center on Coping with Instability in Market Societies in Paris – kurz MaxPo – als Kodirektorin neben dem französischen Wirtschaftssoziologen Olivier Godechot. Zusammen gehen sie der Frage nach, wie europäische Gesellschaften mit jener Instabilität und Unsicherheit umgehen, die auf die zunehmende Individualisierung der Gesellschaft und die Liberalisierungspolitik der vergangenen Jahrzehnte zurückzuführen sind – einer Politik, an der sozialdemokratische Parteien auch nicht ganz unschuldig waren.
Der Dritte Weg und die Sozialdemokratie
Wie konnte es so weit kommen? "Der sogenannte Dritte Weg", die Idee der Modernisierung der europäischen Sozialdemokratie, "war eine Antwort auf den Neoliberalismus", erläutert Andersson beim Gespräch in ihrem Pariser Büro. "Aber er war auch eine Bestätigung des Neoliberalismus, denn sie übernahm zumindest einiger seiner Grundannahmen – zum Beispiel die Hinwendung zum Individualismus oder die Vorstellung, dass der Markt ein Motor für soziale Mobilität und Effizienz sein könne. Und die Idee, dass es für den Markt prinzipiell keine Grenze gebe."
»Der Dritte Weg war auch eine Bestätigung des Neoliberalismus.«
Anders als der Kommunismus gründete die Sozialdemokratie nie auf einer grundsätzlichen Ablehnung des Marktes, sondern arrangierte sich mit ihm. "Aber es gab stets eine soziale, ökonomische und ethische Kritik am Kapitalismus, die zu anspruchsvollen Theorien geführt hat – und zu der Frage, wie der Markt reguliert werden muss, ob durch öffentliche Güter, den Wohlfahrtsstaat, über Formen der ökonomischen Umverteilung durch Steuern oder ähnliche Dinge", so Andersson. "Was ich nach den Diskussionen über den Dritten Weg so dramatisch finde, ist, dass diese Art des Nachdenkens über die Grenzen des Marktes in demokratischen Gesellschaften beinahe vollständig verschwunden ist." Die Sozialdemokratie habe sich einfach mit dem Finanzmarktkapitalismus abgefunden. "Das erklärt für mich zu einem großen Teil ihre heutige Krise", sagt Andersson.
Die 42-jährige Wirtschaftshistorikerin hält eine Forschungsprofessur am Zentrum für Europäische Studien (CEE) der Sciences Po, der französischen Eliteuniversität für politische Studien in Paris. Sie hat 2003 an der Universität Uppsala promoviert, anschließend in Harvard und Florenz geforscht und von 2009 an beim französischen Forschungsrat CNRS gearbeitet, der mit der deutschen Max-Planck-Gesellschaft vergleichbar ist. 2015 erhielt sie dort für ihre Arbeiten eine hohe Auszeichnung, die vom CNRS vergebene Médaille de bronze. Im November 2015 nahm sie den Ruf ans MaxPo an und folgte damit der Gründungs- Kodirektorin Cornelia Woll nach, die heute Vizepräsidentin und Mitglied des vierköpfigen Vorstands an der Sciences Po ist.
Das MaxPo wurde 2012 vom Kölner MPIfG und seinem französischen Partner Sciences Po gemeinsam gegründet. Das Forschungszentrum hat seinen Sitz in einem Seitenflügel der Sciences Po am linken Seine-Ufer, "Rive gauche" genannt, zwischen dem Regierungsbezirk um das Parlament und dem Intellektuellenviertel Saint Germain des Prés. Einst ein Zentrum der Studentenrevolte, ist es heute von Luxusboutiquen, teuren Cafés und Restaurants, aber auch Buchläden und Antiquariaten geprägt und es ist außerdem der Wahlkreis des bürgerlichkonservativen Präsidentschaftskandidaten François Fillon, eines bekennenden Katholiken und ebenso überzeugten Neoliberalen. Kein schlechter Ort, um sich über die zunehmende Ungleichheit der Gesellschaft und die Zukunft der Sozialdemokratie Gedanken zu machen.
"Ich bin in einer eher sozialdemokratisch geprägten Familie aufgewachsen", sagt Jenny Andersson. Ihr Vater war Polizist, die Mutter Lehrerin. Seit 2009 lebt sie in Paris, mit ihrem französischen Ehemann hat sie eine gemeinsame Tochter. Sie ist eine gefragte Expertin, von Thinktanks und Stiftungen wird sie auf Podien eingeladen. "Ich brüskiere sozialdemokratische Politiker manchmal, indem ich ihnen sage, dass sie ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben", gesteht sie. Der aktuelle Erfolg des Rechtspopulismus sei auch ein Nebeneffekt der neoliberalen Politik der letzten Jahre, die sie mitzuverantworten hätten. "Tatsächlich waren sie einfach nur davon überzeugt, dass das schon irgendwie funktionieren würde."
»Der aktuelle Erfolg des Rechtspopulismus ist ein Nebeneffekt der neoliberalen Politik der letzten Jahre, die die Sozialdemokraten mitzuverantworten haben.«
Schnell werde sich der gegenwärtige Rechtspopulismus aber nicht erledigen, fürchtet sie. "Der Neoliberalismus war ja einmal eine Art utopisches Projekt, das den Menschen versprach: Ihr werdet mehr Freiheiten bekommen, mehr soziale Mobilität, und ihr werdet alle in der Lage sein, für euch selbst zu sorgen. Aber für viele haben sich diese Versprechen nicht erfüllt. Da herrscht nun viel Groll gegenüber einer Politik, die das zu verantworten hat und die jetzt als Establishment verschrien wird", meint die Forscherin. Die Wählerinnen und Wähler der Rechtsparteien hätten aber kein gemeinsames ökonomisches Interesse. "Dessen sind sich diese Parteien auch sehr bewusst, und deswegen stellen sie ihr ökonomisches Programm und ihre sozialpolitischen Forderungen auch eher in den Hintergrund. Am Ende wird das für sie zu einem Problem werden", gibt sich Andersson überzeugt. Was diese Wählerschaften zusammenhält, ist ein Gefühl der nationalen Identität, einer gemeinsamen Kultur – oft gepaart mit Rassismus. Dies sei auch eine Antwort auf Entwicklungen, die mit dem Niedergang der Arbeiterklasse und mit der zunehmenden Verunsicherung der unteren Mittelschichten zu tun hätten.
Entwicklungen wie diese seien nicht unumkehrbar. Dazu brauche es aber Politiker, die mit einer positiven Vision auf anderer Grundlage neue Allianzen bilden könnten. "Die Stärke der Sozialdemokratie bestand ja nicht darin, dass sie sich auf eine als solche definierte Arbeiterklasse mit einer gegebenen Identität hat beziehen können. Ihre Stärke bestand vielmehr darin, dass sie die Interessen einer weit größeren Gruppe artikulieren konnte. Angesichts einer weiterhin großen Arbeiterschaft – auch wenn diese sich heute auf andere Sektoren und den Dienstleistungsbereich verteilt – und einer massiven Umverteilung von unten nach oben ist es nicht so schwer, sich vorzustellen, welche potenzielle Nische eine sozialdemokratische Partei besetzen könnte", sagt sie.
Zukunftsforschung und Ideengeschichte in der Nachkriegsära
Anderssons zweites Standbein, und der Schwerpunkt ihrer Arbeit am MaxPo, ist die Erforschung der Geschichte der Zukunftsforschung und ihrer Ideengeschichte in der Nachkriegsära. Ein Projekt, das sie ans MaxPo mitgebracht hat. "Es gibt eine verbreitete Sichtweise, dass die Nachkriegszeit von einem gewissen Fortschrittsoptimismus geprägt gewesen sei und dass die 1970er-Jahre eine Periode des Niedergangs und des Pessimismus waren, in der es keinen Raum mehr für Zukunftsforschung gab." Doch diese Sichtweise sei falsch, die Futurologie keineswegs eine Sache der Vergangenheit. "Wir haben heute alle möglichen Arten der Zukunftsforschung, auch wenn sie nicht so ins Auge springen, zum Beispiel in der Innovations- und Risikoforschung." Auch das, was Jens Beckert, Direktor am MPIfG in Köln mache, zeige die Rolle von Voraussagen in Finanzmärkten. Diese Prognosen gingen bis zu einem gewissen Grad auf Experimente sowie Computersimulationen und Modelle zurück, die direkt der Ära des Kalten Kriegs entsprungen seien. "Es ist also nicht so, dass wir uns keine Gedanken mehr über die Zukunft machen würden, das tun wir. Aber wir überlassen das den Experten und ihrem Expertenwissen, und das ist nicht unproblematisch."
»Wir überlassen es den Experten und ihrem Expertenwissen, sich Gedanken über die Zukunft zu machen.«
Andere Futurologen wie Robert Jungk, Autor des Buchs Die Zukunft hat schon begonnen (1952), lehnten die Idee ab, dass die Zukunft wissenschaftlich vorhergesagt werden könne. "Sie hätten gesagt: Die Zukunft entspringt der Vorstellungskraft. Interessanterweise würden viele Leute im Silicon Valley die Idee, dass man die Zukunft gestalten könne, heute teilen." Die Vorstellungen von Robert Jungk und anderen, die Nachdruck auf Imagination, soziales Denken und Innovation legten, seien in liberale und unternehmerische Ideen der 1980er- und 1990er-Jahre eingeflossen – in die Utopie, dass digitale Informations- und Kommunikationstechniken zur Befreiung und Emanzipation beitragen könnten.
"Aber Zukunftsforscher wie Robert Jungk haben unsere gesellschaftlichen Verhältnisse infrage gestellt, sie waren kritisch gegenüber Machtstrukturen und Ideologien eingestellt", schränkt Jenny Andersson ein. "Das haben wir in gewisser Weise verloren. Unser Problem ist, dass wir nicht mehr in der Lage sind, auf eine Art und Weise über die Zukunft nachzudenken, die den handelnden Menschen in den Mittelpunkt stellt." Technokratie und Expertentum haben uns aber nicht vor der Finanzkrise und falschen Entscheidungen bewahrt. "Das hat zu Protest und sozialen Bewegungen geführt und zu einem verstärkten Misstrauen gegenüber den Eliten", meint Andersson. In der Politik wiederum habe sich die Vorstellung durchgesetzt, es gehe nur darum, den bevorzugten Wählerwillen durchzusetzen. "Aber Politik kann auch dazu beitragen, die Werte einer Gesellschaft zu verändern. Der Klimawandel ist so ein Gebiet, auf dem wir gefragt sind, aktiv unsere Werte und unser Verhalten zu hinterfragen", sagt sie.
»Politik kann auch dazu beitragen, die Werte einer Gesellschaft zu verändern.«
Dass es "Weltprobleme" gebe, die nur gemeinsam zu lösen sind – auch das sei eine Vorstellung, die in den 1960er-Jahren ihre bis heute gültige Form angenommen habe. "Die Futuristen jener Zeit hielten den Nationalstaat für ein aggressives System, das in ihren Augen für zwei Weltkriege verantwortlich war. Die Frage war, wie man von der nationalen Ebene zu einer Art Weltparlament oder Weltföderation gelangt. Obwohl wir mittlerweile ein kompliziertes Geflecht multilateraler Abkommen besitzen, haben wir dieses Problem noch immer nicht gelöst." Die gegenwärtige Herausforderung bestehe einerseits darin, dass Menschen gegen die Wissenschaften und das Expertentum insgesamt rebellierten – und andererseits in dem neoliberalen Trend, auf individuelle Lösungen zu setzen. Doch so große Probleme wie die Finanzkrise oder der Klimawandel ließen sich nicht durch individuelle Antworten lösen. "Dazu braucht es kollektive Anstrengungen," fordert Andersson.
"Das Problem ist, dass wir dafür keine effizienten Institutionen haben – und das, obwohl wir seit den 1950er- und 1960er-Jahren Institutionen besitzen, die der Idee von Gemeinschaftsgütern verpflichtet sind", stellt die Forscherin fest. Aber wir haben die Wahl: "Entweder wir sehen die Zukunft als eine Art wissenschaftlich konstruierte Maschine. Oder als etwas, das uns herausfordert – unsere Ethik, unsere Verantwortung, unsere Werte und unser politisches System." Keine Frage, welche Sichtweise ihr näher ist.